0642 - —
Eine Lehrerwahl.
Rotgüldener Herbsttag! Einer der verspä-
teten schönen Tage, die der Oktober dem Nord-
denischen als Entschädigung bietet für den oft
so wässerigen Sommer. Heute will die Natur
nicht trauern; sie lebt noch einmal auf an
diesem sonnigen Tage. Die Schwarzdrosseln
sitzen schmausend in den Ebereschen. Ihre
roten Früchte leuchten weithin und locken
manchen geflügelten Gast. Krähen ziehen in
Scharen vorüber. Noch lange schallt ihr kräch-
zender Schlachtgesang.
Auch der nun die Landstraße entlang kom-
mende Mann bietet ein Abbild des verspä-
teten Sommertags. Rüstig schreitet er ans.
Man sieht ihm seine bald vollendeten sechzig
Lenze nicht a». Stechend blicken die grauen,
unter den starken weißen Brauen versteckten
Augen in die Weite. Einen milderen Zug ver-
mittelt der weiße wallende Vollbart. Das Kopf-
haar schaut voll und lang unter dem großen
schwarzen Schlapphut hervor. Die rechte Hand
umschließt de» silbernen Griff eines modernen
Stockes, im linken Arm trägt er feinen Über-
zieher. Ein einstündiger Weg hat ihn schon
ivarin gemacht.
„Na, daß es heute auch gerade so warm
sei» muß. Ta hätte ich mir lieber einen Wa-
gen nehmen sollen. Aber zivölf Mark sind doch
dadurch verdient. Dies Jahr werd' ich wohl
an den requirierten Unkosten an die drei-
tausend Mark über haben. So ein Schulaus-
sichtsposten ist nicht ohne. Was man alles mit
seinen zwei Beinen iin Jahre belaufen kann!
Und da denken die Herren oben, ich sitze ge-
mütlich in der Eisenbahn oder im Wagen.
Ob mir der Lehrer in Schärpen auch wieder
ein Mittagessen anbieken wird? Aber Sorgen
hat man auch. Hat mirWühe genug gekostet,
die drei Bewerber um die freie zweite Lehrcr-
stclle zusamnrcnzustoppeln. Freiwillig meldet
sich keiner. Na. da inußte ich eben einen sanften
Druck ausüben. Was sagte noch der Damm?
,Nach Schärpen ^geh' ich nicht, Herr Schulrat,
da kann man ja nicht einmal eine ordentliche
Wohnung bekommen.' Was diese Herren schon
sür Ansprüche stellen. Der Heider wollt' auch
nicht. Mir liegt das Dorf zu weit ab von
der Kultur. Zwei Stunden nach der nächsten
Bahnstation, das ist ja in der Wildnis.' Na-
türlich, Großstadtluft woll'n sie alle. Theater,
.Konzerte usw. Wo bleibt da die Bescheiden-
heit, keiner ist mehr zufrieden."
Bei diesem Selbstgespräch hatte der alte
Herr das Herannahen eines Wagens überhört.
„Guten Tag,Herr Schulrat." Ein devotesHut-
lüften des Wageninsassen. „Kutscher, halt! Darf
ich Sie bitten, milzufahren, Herr Schulrat?"
Etwas bestürzt stand der alte Herr da. Das
war ja Hansen, einer seiner Lehrer, der mit
zur Wahl stand. Unerhört! Was sollte er tun?
Die verlockende Freifahrt von seinem Unter-
gebenen annehmen oder noch eine gute Stunde
zu Fuß lausen? Ihm war schon recht warm.
DaS schwache Fleisch siegle, wie so oft im
Leben, ivieder einmal über den Geist. Er stieg
ein, etwas Unverständliches murmelnd. 9le-
spektvoll überließ Hansen ihm den Rücksitz,
fältele einen gebrochenen Bogen Kanzleipapier,
auf dem seine Lehrprobe stand, zusammen und
schaute seelenvergnügt seinen Vorgesetzten an.
Niemand entgeht der Rot der Zeit,
Eie steht vor meinem Tisch,
Stützt frech die Fäuste auf und schreit:
Was soll dein lyrischer Wisch?
Was soll dein lyrischer Wischiwaschi
Ein anderes Lied lut not.
Mit Trommelbegleilung, rischirasch.
Und daS Kalbfell wirbelt der Tod.
Und das Kalbfell wirbelt der Tod, trounn,
tromm!
O Trommel, wie lockst du so sehr.
Der Tambour schlägelt sein Kamerad komm.
Und es wächst das hungrige Leer.
Und vor dem hungrigen Leere fällt
Deine satte Kunst in die Knie,
Und ihren Todesschrei übergelit
Die Revolutionsmelodie. Fcuie.
„Na, Hansen, Sie haben's Geld auch wohl
reichlich? Der Wagen kostet doch nach Schärpen
und zurück so zwölf Mark.
„Gewiß, Herr Inspektor, aber gewählt werke
ich nicht; da werden mir die Unkosten ja er-
setzt."
„Na, sind Sie so sicher, daß Sie nicht ge-
wählt werden?"
„Ja — nach menschlichem Ermessen muß
ich glänzend durchsalle», danach ist meine
Lehrprobe eingerichtet."
„Na, da steht doch die Weltgeschichte still —
Sie halten absichtlich eine schlechte Lehrprobe?"
„Herr Schulrat, in dieses gottverlnssene
Nest möcht' ich doch wirklich nicht. Wie soll
ich mich da fortbilden? Wo soll ich neue 'An-
regungen suchen und finden? Bei den Bauern
in Schärpen, die sich geflissentlich gegen die
Mitwelt abschließe», wo alles sich nur um die
harten Taler dreht, wo ein von auswärts
Kommender als Eindringling betrachtet wird?
Nein, in dieser Stickluft kann ich nicht leben."
Maßlos erstaunt sah der Schulrat sein
Gegenüber au. So mit ihm zu reden! War er
denn hier noch der Vorgesetzte? Er fand keine
Worte. Zusammengesunken brütete er ans fei-
nem Platze.
Der alte Herr dachte an die beiden anderen
Beteiligten, die auch nur dem Drucke des Vor-
gesetzten nachgebeud sich zur Wahl gestellt
hatten. Ob die es wohl ebenso machen wür-
den wie dieser Hansen? Das wäre denn doch!
Sein ganzer Jnspektionskreis verseucht! Auch
eine Folge des „roten Giftes", das immer
größere Volkstrcise ergreift.
„Hansen, sagen Sie nial, wen haben Sie
eigentlich bei der letzten Reichstagswahl ge-
wählt?" Spontan war es ihm entfahren.
Flammende Zornesröte bedeckte das frische,
offene Gesicht des jungen Mannes. Schon lag
ihm ein hartes Wort auf der Zunge. Da be-
sann er sich.
„Gewiffensfrage, Herr — Schulrat, die be-
antworte ich grundsätzlich nicht."
„Na. na, »nein lieber Hansen, ich meine es
doch gut mit Ihnen. Sehen Sie, Ihr Amt
muß Sie doch vor etwaigen Verirrungen be-
wahren. Sie sollen doch die Ihnen anver-
traute Jugend in Gottesfurcht und PalriotiS-
>nus erziehen."
„Herr Schulrat, haben Sie schon einmal
vor der Klaffe gestanden und mit den Kü
dern gebetet: Komm. Herr Jesus, sei unser
Gast und segne, was du uns bescheret hast?"
„Das wird doch jeden Mittag bei Schluß
der Schulstunde gesprochen; das steht doch in
der Instruktion."
„Ja, da steht's, aber ich kann's nicht mehr.
Mir ist die Ironie zu teuflisch. Wo ein halbes
Dutzend meiner Klasse überhaupt kein mar-
ines Mittagessen bekommt, einige nicht ein-
inal ein Stück Brot, da sollen sie Jesus noch
zu Gaste laden? Sprachen wir morgens das
Gebet: Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie
Hab' ich geschlafen so sanft die Nacht.... Sie
kennen es ja, Herr Schulrat, da mußte ich
oft an den kleinen Heini Holter in meiner
Klaffe denken. Wie mag er gestern abend roit-
der geweint haben vor Hunger und Frost, ehe
der Tröster Schlaf ihn umfing unter seinen
Deckenrcsten in der verfallenen Kate, wo der
Regen durchsickert, der Schimmel an den
Wänden sitzt und jeder Sturm noch etwas
nimmt von dem letzten .schützenden' Obdach,
das seine Mutter und ihn beherbergt. Wie
.fröhlich' ist er aufgewacht; zitternd sieht er
da und verzehrt ein hartes Stück Schwarzbrot
zu seinem heißen Zichorieuwaffer. Ist da Gott
auch bei ihm gewesen und hat sür ihn gesorgt,
wie es im Gebet heißt?"-
Da hielt der Wagen vor dem Kruge, dem
einzigen Wirtshause in Schärpen. Der Gast-
wirt Johann Hinrichs stand vor der Tür. Er
war soeben durch die Stimme seiner Frau,
die ihre Magd auskeifte, jählings aus seinem
Schlummer erwacht. Noch ganz mürrisch emp-
fing er seine Gäste: „Govn.Dag ook, Harr
Jnspekter! Dag, jung Man»!"
Die Ankommenden traten in die große, leere
Wirtsstube. Da folgten auch schon ein Paar
Bauern aus dem Dorfe. Voran Wolfhardt, der
Schmied. Mit einem brummigen Gruß trat er
ein. Um seinen stattlichen Bauch war eine breite
Ledergurt geschnallt. Hart setzte er sich auf einen
Stuhl am langen Tisch. Neben ihm ließ sich der
Wiesenbauer nieder. Ein merkwürdigerMensch.
Sein breites Gesicht saß auf einem dicken Halse.
Die Augen lugten schlau hervor. Ein Mann,
der auf seinen Vorteil bedacht ist.
Martens und Denecke, die beiden anderen
Kandidaten für die Lehrerstelle kamen herein.