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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 36.1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.8264#0057
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Beilage zum wahren J acob

Nummer 853 Stuttgart, 28. März 1919 36. Jahrgang

Die Entente in Europa.

Opferzahlen.

o o

Zahlen stehen so kalt und nüchtern da:

1600000 atmen nicht mehr;

4064000 trugen Narben und Wunden heim;
800000 harren gefesselt in Feindesland;
203000 — niemand berichtet ihr Los.

Zahlen stehen so kalt und nüchtern da.

Tote Zeichen, aus blutlosen Schemen ent-
sprossen;

Endlos darfst du sie reihen: sie Klagen nicht.
Sind zu allem bereit und wen5en ihr Gesicht,
Still und frostig dir zu, was auch in ihnen
verschlossen.

Aber denke, daß sie von Tod und Gebrechen,
Daß sie vonMenschen, von Menschen sprechen,
Wesen wie du und ich! Und sieh: sie erbeben.
Schlagen schreckhaft die Augen auf und leben.
Starren voll finsteren Feuers dich an:
Weißt du, was Not ist?

Weiht du, was Tod ist?

Kennst du des Haffes dämonischen Wahn?
Zeder einzelne fühl es! — der Menschheit
Kind,

Nun denke, wieviel, wie unendlich viele wir
sind!

Und fie recken verzweifelt die Arme und weinen.
Blut strömt aus den Herzen, aus zerschlagenen
Gebeinen.

Schmutziger Schweiß perlt von fiebernden
Stirnen,

Wahnsinn wühlt in den zitternden Hirnen.
Flüche aus dorrender Kehle und Röcheln;
Bleiche Lippen voll blutigem Schaum
Lächeln ein wirres, sehnsüchtiges Lächeln
3m letzten Traum....

Weißt du, was Tod ist?

Weißt du, was Not ist?

Kennst du der Seele quälendes Bangen?
Augen, Augen voll heißem Verlangen
Hinter Drohflinken und Skacheldraht —

Die über Graben, Mauer und Zaun
Weit in verlorene Heimat schaun.

Fragend, wenn der Befreier naht.

Weißt du, was Tod ist?.

Weißt du, was Not ist?

Irgendwo sind Menschen gewesen,

Haben gelitten,

Haben gestritten,

Wollten einst wieder zur Liebe genesen.
Marschierten in Sonne und Zuversicht,
Lachten dröhnend und sangen Lieder,
Marschierten in Sturm, in Nebel und Regen,
Und, das einst brannte lichterloh:

Irgendwo an pfützigen Wegen,

In dunkler Höhle, auf grüner Flur —
Irgendwo verwehte die Spur.

Wo?... Wo?!...

Zahlen stehen so kalt und nüchtern da.
Endlos kannst du sie reihen.

Und was auch mit ihnen geschah —

Frostig schaun sie dich an und ergeben.

Aber blicke in sie hinein:

. Wie sie dann sprechen, wie sie dann leben —
Und schrei'n.. ., und schrei'n! . . . E.P.

Lieber Wahrer Jacob!

Eine hohe militärische Wirtschaftsstelle
mußte, weil fie in der neutralen Zone lag,
entmilitarisiert werden. Das geschah in der
Weise, daß Offiziere und Mannschaften in
Zivil gesteckt wurden und dann gewissermaßen
als Zivilbehörde weiterarbeiteten. Der Ge-
freite Finkbeiner, Tagebuchführer der Stelle,
hatte keinen eigenen Zivilauzug mehr. Als er
nach der Umwandlung zum ersten Male an-
rückte, in einem Anzug, der ihm offenbar viel
zu lang und zu weit war, fragte ihn sein
Bureauoffizier: „Nanu, Finkbeiner, wie sehen
Sie denn aus?" — „Entschuldigen Sie, Herr
Hauptmann," erwiderte der Gefragte, „ich
komme in Sachen meines Vaters!" F.M.

Als der Dichter das Wort prägte: Neues
Leben blüht aus den Ruinen, hat er gewiß
nicht daran gedacht, daß nun unzählige Men-
schen meinen: um neues Leben zu schaffen,
muß man das alte erst in Ruinen legen!

Das Recht der freien Meinung ist eine
schätzenswerte Errungenschaft. Schade, daß
nun jede freie Meinung auch recht haben will.
 
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