Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 36.1919

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.8264#0227
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
9843

Er drückt auf den Knopf. Der Chauffeur
kennt das Zeichen: schneller, schneller fahren!
Er hat es heute schon oft bekommen-Achsel-

zuckend behält crdas bisherige Tempo bei. Erhat
keine Lust, an einem Chausseestein zu zerschellen.

Die Nebelgestalten drängen sich an das
Fenster. Der entthronte Cäsar sieht deutlich
die wilden, verzweifelten, drohenden Gesichter.
Sie fordern von dem Schuldigen Rechen-
schaft, dem ihr Leben und Glück anvertraut
war und der damit gespielt hat wie ein Spieler
mit Spielmarken. Mit einem Ruck reißt er die
Vorhänge herunter.

Gott sei Dank, nun sieht er sie nicht mehr,
die Mahner, die Ankläger, die Eintreiber seiner
unerhörten Schuld. Er atmet auf.

Da — was ist das? Es prasselt auf den
Wagen, und eine Scheibe splittert entzwei. Und
nun fallen Schüsse. Scharf zerreißt ihr Knall
die Luft. Eine wilde Angst packt ihn. Er, der
jahrelang Millionen Menschen aufeinander,
schießen ließ, hat sich selber immer ferne ge-
halten vom Ort der Gefahr.

Mit der Angst mischt sich Wut. Wer hat
es gewagt, auf den Kaiser zu schießen? In
Gedanken unterschreibt er das Todesurteil, wie
er so viele unterschrieben hat. . - . Aber jäh
überfällt ihn der Gedanke, daß es nun aus
ist mit seiner Allmacht. Er ist ein Mensch wie
jeder andere, kein Instrument des Himmels
mehr. Seit sie ihn in Berlin frech und un-
botmäßig abgesetzt haben, seit sogar seine Gene-
rale nicht den Bürgerkrieg gegen die Nevolu-
tion wagen, ist es aus mit ihm. — Zähne-
knirschend ballt er die Faust.

Das Auto macht einen Ruck. Es hält. Der
Diener meldet, daß er in den Zug müsse. Man
ist dicht an der holländischen Grenze.

Schweren Schritts steigt der ehemalige Kaiser
aus. Es ist längst nicht mehr der „elastische
Schritt", von dem die Reporter einst so servil
zu erzählen wußten.

Auf dem Bahnsteig sieht er Menschen stehen,
und er hört holländische Worte. Kein Triumph-
bogen wie einst — kein spalierbildender Verein
— keine gekrümmten Buckel und ehrerbietige

Mienen-eisiges Schweigen begrüßt den

Gestürzten; hierund daklingthöhnisches Lachen,
das wie ein Peilschenschlag wirkt. Nein, „Wil-
helm der Eroberer" wird sich die Herzen der
Holländer nicht erobern.

Hastig steigt er in den Wagen, der ihn da-
vonführt — fern von seinem ausgMuteten
Heere, von.seinem ausgehungerten Volke, nur
nicht fort von den Mahnungen und Qualen
des eigenen Gewissens. . . .

Der Blinde

Er sitzt am Fenster der kleinen Dachwohnung.
Seine Hände flechten emsig, ohne auszuruhen,
den Bast zu einem Korbe. Seit Karl Schneider
bei der Minenexplosion im Graben von La
Boisselle das Augenlicht verloren hat, ist das
seine einzige Beschäftigung.

Einst ein strammer Wanderer, Turner und
Arbeiter — jetzt ein hilfloser Mensch, der die
Arbeit von Greisen und Kindern machen niuß.
Er stöhnt verzagt, wenn er daran denkt, was
ihm alles von den Schönheiten des Lebens für
immer genommen ist. Aber er tut es nur leise,
damit die alte Mutter, die es ohnehin schwer
genug hat, nicht noch mehr leidet.

Wo steckt sie nur? Sie ist sonst viel früher
vom Markt zurückgekommen. Den ganzen
Morgen hört Karl lautere Bewegung auf den
Gassen: sein Ohr ist geschärft, seit sein Seh-
organ nicht mehr arbeitet.

Es wird wieder eine Siegesbotschaft sein,
eine erlogene oder eine wahre — in jedem
Fall eine zwecklose. Nein nein, er will davon
nichts hören. Er hat es der Mutter streng
verboten, ihm solches Zeug vorzulesen oder
zu erzählen. Und am liebsten möchte er e8
den Menschen, die da draußen gewiß wieder
blut- und siegestrunken zusammenlaufen, zu-
schreien: Hört auf mit dem sinnlosen Morden
und schämt euch, Freude an der Massenver-
nichtung zu haben!

Er hört die Türe aufgehen und erkennt
den Schritt der Mutter.

„Karl, weißt du, was geschehen ist?"

Er hält sich die Ohren zu. „Laß mich in
Ruhe. Nichts, nichts, nichts will ich davon
wissen."

„Aber dies wirst du doch hören?" In ihrer
Stimme ist ein Unterklaug, der ihn aufhorchen'
macht. „Also erzähle!" sagt er etwas unge-
duldig.

Und nun hört Karl Schneider die unge-
heuren Botschaften vom Sturz des Gewalt-
herrn, vom Sturz des alten, verruchten Sy-
stems, von der Aufrichtung des neuen-

längst hat er sich von seinem Platz erhoben.

Bayerns Regierungskrise

Der bayrische Löwe brüllt und klagt:
»Chamäleon sollt man mich heißen!

Erst war ich weifz-blau, das hat mir behagt.
Dann durfte ich rötlich gleißen.

Kaum hat mich die neue Farbe geschmückt
Mit ihren Freuden und Lasten,

Da wird schön wieder von neuem gezückt
Der politische Farbenkasten.

Es fragt kein Teufel, ob mir das frommt.
Kein Schuhgeist hört mein Gewinsel —

Die schwarze Farbe, sie kommt, sie kommt,
Schon rührt sich der Zentrumspinsel!

Ist dies der ,Segen der Revolution'?

Die Farben sind schon verblichen.

Ich wußt es, ich Ärmster, ja immer schon:
Schwarz werde ich angestrichen.« Kärtchen

seine Hände beben, er tastet nach der Mutter
und umarmt sie.

„Endlich, endlich!" ist alles, was er stam-
melnd hervorbringen kann.

Aber in den einfachen Worten liegt ein
ganzes Lebeusbekenntnis, liegt der Jubel der
Erkenntnis: es ist nicht alles umsonst gewesen!
Aus dem ungeheuren Brand steigt das Volk
wie ein Phönix hervor, seiner Bestimmung ent-
gegen. Endlich ist es zur Erkenntnis gekommen.

„Heute ist Feiertag, Mutter. Nimm die
Arbeit beiseite."

Gerührt sieht die Mutter, wie der sonst so
Ernste, Schwermütige, Gebrochene lächelt.
Sie ahnt: in die Nacht des Blinden hat ihre
Freudenkunde Licht gebracht. . . .

Wahre Nevolutionsgeschichtcheu

Ein junger Parteigenosse lag am 9. No-
vember 1918 im Spital an der Grippe. Seinen
Wunsch, ein paar Stunden ausgehen zu dürfen,
schlug der Arzt rundweg ab. Ärgerlich seufzte
der Brave: „Wann eenmol in Deitschland Re-
volution is, muß ich die Kränk hawwe!"

Am Samstag, den 9. November, fuhr ei»
jugendlicher Feldgrauer auf der Elektrischen.
„Heut Mittag um viere soll alles am Schloß-
platz zammkumme," sagte er zu einem anderen
Soldaten. „So, was habt ihr denn da vor?"
fragte dieser. — „Ich weeß nit, ich laaf halt
mit!" *

Ende Oktober zog ein Generalkommando
zum „Heeresersatz Wotan" einen Mann ein,
der als „Aufwiegler" und „Unruhestifter" auf
der Schwarzen Liste stand. Beim Umsturz wurde
der Mann Kriegsminister, und die Offiziere,
die ihn durch den Einzug hatten wollen un-
schädlich machen, mußten seine Befehle aus-
sühren. *

Ein Abgeordneter kam am Revolutionstage
mit der Bahn nach der Hauptstadt. Auf einem
Bunimel durch die Straßen erstand er ein
Extrablatt und erfuhr daraus, daß er Kultus-
minister war. ^

Als die Nachricht von der Abdankung des
Kaisers angeschlagen wurde, traf ich einen
jungen Bekannten. Er inachte ein sauertöpfi-
sches Gesicht. Warum? „Vor vierzehn Tagen
bin ich zum Neserveleulnant eingegcbe» wor-
den, da.wird wohl jetzt nichts mehr daraus
werden!" ^

Ein geflüchteter Landesherr wurde von dem
neuen und dem alten Ministerpräsidenten per
Auto nach der Hauptstadt zurückgeholt zur
Unterzeichnung der Abdankungs-Urkunde.
Nachts um 1 Uhr erlitt das Auto eine Panne,
die nicht sofort zu beheben war. Man mußte
in einem Dorfe übernachten, wo Massen- zurück-
strömender Fronttruppen im Quartier lagen.
Mit Mühe konnte man Zimmer freimachen,
eines, für den Fürsten, eines für die zivei
Minister. Es gebrach aber an Licht. Der Wirt
besaß nur noch einen Kerzcnstumpen, den er
den Ministern so lang überließ, bis sie sich
ausgezoge» hatten. Dann nahm er ihn wieder
weg, um ihn dem Landesvater zu bringen,
der so lange im Dunkeln saß.
 
Annotationen