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träglich zu Hause: seine Frau lies in der Woh-
nung herum „wie eine vergistete Ratte", wie
er vor sich hin brummte.
Der Christbaum sollte geschmückt werden;
die Geschenke lagen in der guten Stube, wo
niemand hinein durste und wo die Kinder
fortwährend herausgejagt werden mußten; der
Ofen rauchte von dem verwünschten Torf,
kurz, es war die übliche Heilige-Abend-Stim-
mung. Er drückte sich bis zur Stunde der
Bescherung.
Im Stammlokal saß nur sein Vorgesetzter,
derRegierungsrat, deines gerade so gegangen
war.
Beide tranken ihren Schoppen und sprachen
von den schlimmen Zeiten. „Immerhin habe
ich einen fetten Gänsebraten zu Hause schmo-
ren," gestand der Regierungsrat, und Herr
Nettebohm verriet, daß er einen
schönen Schinken „hinten herum, wie
sich's für einen rechten Schinken ge-
hört", erworben habe.
An der Wand hing ein großes
Plakat eines Kinos. Neben einem
erschütternden Drama: „Die Rache
des Farmers" gab es ein Lustspiel:
„Fritzchens Pumphose" und „Bilder
aus der Zeitgeschichte". ^
Der Regierungsrat schlug vor, die
langweilige Stunde, die sie noch bis
zur Bescherung übrig hatten, dort tot-
zuschlagen. Herr Nettebohm stimmte
zu, wie immer, wenn sein Vorgesetz-
ter etwas vorschlug.
Auf dem Wege kamen sie an einem
Bilderladen vorbei, in dem Bilder
des Reichspräsidenten und anderer
Volksmänner hingen.
„Empörend, daß so etwas erlaubt
ist," knurrte derRegierung^rat. „Die
ganze Weihuachtssreude kann einenr
genommen werden."
„Wieviel schöner war es, als hier
noch die Bilder des erhabenen Herr-
scherhauses hingen und die unserer
herrlichen Generäle!" Herr Nette-
bohm zerdrückte eine Träne im Auge.
„Mir aus der Seele gesprochen, Herr Se-
kretär! Ja, wenn wir Getreuen nicht wären
— wir könnten wirklich fast an der monarchi-
schen Sache verzweifeln." Er drückte dein
Gesinnungsgenossen die Hand. „Wir haben
uns nicht vom allgemeinen Strudel mitreisten
lassen, wir nicht."
Sie begaben sich in das Kino, wo eine ge-
spannte Menge dem geistreichen Lustspiel von
„Fritzchens Pumphose" folgte.
In den hellen Augenblicken überflog Herr
Nettebohm bas Programm. Vor dem „erschüt-
ternden Dramä" kamen noch — er traute
seinen bebrillten Augen kaum — Aufnahmen
von der November-Revolution und der Ab-
dankung seines angestammten Großherzogs.
Eine dunkle Ahnung beschlich Herrn Nette-
bohm. Er war nicht gerne an jene furchtbare
Zeit erinnert. Und das hatte seine guten Gründe.
Au jenem unheilvollen Tage halte er das
Bureau verlassen, um sich bei seinem Metzger
etwas zur Verbesserung seines Frühstückbrots
zu erstehen, und er war plötzlich iu eine
Menschenmenge geraten, die mit roten Fahnen,
revolutionäre Lieder singend, dahinzog.
Die roten Fahnen hatten ihn erschreckt, aber
die Anwesenheit von Soldaten hatte ihn wie-
derberuhigt: wo unsere „wackeren Feldgrauen"
dabei waren, konnte nmn sich ruhig niederlassen.
Aber plötzlich hatte er etwas erlebt, was ihm
das Blut iu den Adern gerinnen ließ: einer
dieser „wackeren Feldgrauen" zerschlug mit
wuchtigen Hieben ein Gewehr an den steiner-
nen Stufen des Kaiser-Withelm-Denkmals an
der Promenade.
Brausende Beifallsrufe ertönten und —
Herr Nettebohm rief mit, aus Augst, daß
nmn seine wahre Gesinnung erkennen würde.
Es war kein.Zweifel, daß man dann das
nächste Gewehr an seinem Schädel zerschlagen
würde. . . .
In Schritt und Tritt marschierte er mit,
als es nun zum Schloß ging. Ost hatte er
Steine statt Brot
„Nu, aber hören Sic, das lctztemal haben Sic mich schlecht bedient,
da waren ja lauter Steine in der Kohle."
„Ja, davor ist's doch auch Stein-Kohle."
und jubelte den Unholden zu, die eben die
Posten entwaffneten und in das Schloß ein-
drangen, eine rote Fahne über ihren Köpfen
schwingend.
Es wurde hell.
Der Regierungsrat erhob sich. „Sie sind
ein Revolutionär," sagte er scharf. „Hüten
Sie sich, noch einmal an unserem monarchi-
schen Stammtisch zu erscheinen! Mit Schimpf
und Schande werden Sie davougejagtiverden!"
Nun war er fort.
Es wurde wieder dunkel. Und der unglück-
liche Herr Nettebohm saß geduckt und zer-
schmettert da und ließ all die blutrünstigen,
blödsinnigen Abenteuer des Wild-West-Filins
über sich ergehen. Er wagte sich nicht aus
Tageslicht und er flüchtete erst, als „Fritz-
chens Pumphose" von neuem begann.
Es war spät geworden. An ver-
schiedenen Häusern tauchten die be-
kannten Lichtpyramiden an den
Scheiben auf.
Als er die Wohnungstür öffnete,
lief seine Frau immer noch „wie
eine vergistete Ratte" umher. Nur
war auch ihre Stimmung wie das
Thermometer uin einige Grade ge-
sunken.
„Wo steckst du denn?" schrie sie.
„Seit Stunden warten wir auf dich.
Denkst du denn gar nicht an unsere
Bescherung?"
„Ach was," antwortete er grob.
„Die Bescherung habe ich längst ge-
habt. Eine schöne Bescherung. . . ."
Die Schuldigen
Sie können stundenlang reden, nur
um nicht sagen zu müssen: „Wir
ivagten 1914 den Griff nach der Welt-
herrschaft und wollten 1917 das arm«
selige Belgien nicht loslassen!"
hier gestanden, um an einem Fenster einen
Schatten von seinem Landesherrn zu erhaschen.
Diesmal galt es, ihn zu entthronen — Herrn
Nettebohm standen jetzt noch die Haare zu
Berge, wenn er daran dachte. Bald hatte er,
von den Hintermännern geschoben, auf der
Terrasse gestanden und-
Was war. das??
Auf der zitternden Leinwand vorn mar-
schierte er plötzlich sich selber entgegen, den
Hut schwenkend und den Mund groß aufge-
rissen !
Der Äegierungsrat stieß ihn zornig au.
Herr Nettebohm sandte ein Stoßgebet zum
Himmel, daß er den Fußboden öffnen und ihn
ein paar Klafter tief versinken lasse_Aber
sein Gebet wurde nicht erhört. Er blieb hier,
eingekeilt in der Sitzreihe, sitzen und mußte
die zischenden Worte seines Vorgesetzten hören:
„Was muß ich da erleben?"
„Herr Regierungsrat, ich versichere Sie,
ein Irrtum, ein unseliger Irrtum — —"
„Ist das auch ein Irrtum?" zischte der Vor-
gesetzte.
Oben auf dein Film stand Herr Nettebohm,
ivie er leibte und lebte, auf der Schloßterasse
Diese „Helden" waren nicht mutig
genug, den verlorenen Krieg abzu-
brechen; sie trachteten ihn nur zu verlängern
und zetern heute über die Revolution.
k
Heute sagt die ganze Clique: sie habe 1914
den Krieg nicht gewollt. Daß sie 1917 den Frie-
den nicht gewollt hat, ist inzwischen festgestellt
worden.
*
An der Unehrlichkeit Wilsons soll 1917 der
ehrliche deutsche Friedenswille gescheitert sein.
Uns scheint vielmehr, daß der damals noch
ehrliche Wilsonsche Friedenswille an der Un-
ehrlichkeit der deutschen obersten Heeresleitung
scheiterte. '
„Wenn's schief geht, bleibt uns immer noch
ein Untergang in Ehren!" So riefen damals
die Schuldigen, die heute wohlgenährte Zu-
schauer des deutschen Zusammenbruchs sind.
Hunderttausende sanken ins Grab; Millionen
hungern und frieren .. . nur die Schuldigen
selbst hat ihr Werk noch nicht beim Kragen
genommen. ^
Der Saal des Untersuchungsausschusses ist
die letzte „Ruhmeshalle" für das kaiserliche
Deutschland.
träglich zu Hause: seine Frau lies in der Woh-
nung herum „wie eine vergistete Ratte", wie
er vor sich hin brummte.
Der Christbaum sollte geschmückt werden;
die Geschenke lagen in der guten Stube, wo
niemand hinein durste und wo die Kinder
fortwährend herausgejagt werden mußten; der
Ofen rauchte von dem verwünschten Torf,
kurz, es war die übliche Heilige-Abend-Stim-
mung. Er drückte sich bis zur Stunde der
Bescherung.
Im Stammlokal saß nur sein Vorgesetzter,
derRegierungsrat, deines gerade so gegangen
war.
Beide tranken ihren Schoppen und sprachen
von den schlimmen Zeiten. „Immerhin habe
ich einen fetten Gänsebraten zu Hause schmo-
ren," gestand der Regierungsrat, und Herr
Nettebohm verriet, daß er einen
schönen Schinken „hinten herum, wie
sich's für einen rechten Schinken ge-
hört", erworben habe.
An der Wand hing ein großes
Plakat eines Kinos. Neben einem
erschütternden Drama: „Die Rache
des Farmers" gab es ein Lustspiel:
„Fritzchens Pumphose" und „Bilder
aus der Zeitgeschichte". ^
Der Regierungsrat schlug vor, die
langweilige Stunde, die sie noch bis
zur Bescherung übrig hatten, dort tot-
zuschlagen. Herr Nettebohm stimmte
zu, wie immer, wenn sein Vorgesetz-
ter etwas vorschlug.
Auf dem Wege kamen sie an einem
Bilderladen vorbei, in dem Bilder
des Reichspräsidenten und anderer
Volksmänner hingen.
„Empörend, daß so etwas erlaubt
ist," knurrte derRegierung^rat. „Die
ganze Weihuachtssreude kann einenr
genommen werden."
„Wieviel schöner war es, als hier
noch die Bilder des erhabenen Herr-
scherhauses hingen und die unserer
herrlichen Generäle!" Herr Nette-
bohm zerdrückte eine Träne im Auge.
„Mir aus der Seele gesprochen, Herr Se-
kretär! Ja, wenn wir Getreuen nicht wären
— wir könnten wirklich fast an der monarchi-
schen Sache verzweifeln." Er drückte dein
Gesinnungsgenossen die Hand. „Wir haben
uns nicht vom allgemeinen Strudel mitreisten
lassen, wir nicht."
Sie begaben sich in das Kino, wo eine ge-
spannte Menge dem geistreichen Lustspiel von
„Fritzchens Pumphose" folgte.
In den hellen Augenblicken überflog Herr
Nettebohm bas Programm. Vor dem „erschüt-
ternden Dramä" kamen noch — er traute
seinen bebrillten Augen kaum — Aufnahmen
von der November-Revolution und der Ab-
dankung seines angestammten Großherzogs.
Eine dunkle Ahnung beschlich Herrn Nette-
bohm. Er war nicht gerne an jene furchtbare
Zeit erinnert. Und das hatte seine guten Gründe.
Au jenem unheilvollen Tage halte er das
Bureau verlassen, um sich bei seinem Metzger
etwas zur Verbesserung seines Frühstückbrots
zu erstehen, und er war plötzlich iu eine
Menschenmenge geraten, die mit roten Fahnen,
revolutionäre Lieder singend, dahinzog.
Die roten Fahnen hatten ihn erschreckt, aber
die Anwesenheit von Soldaten hatte ihn wie-
derberuhigt: wo unsere „wackeren Feldgrauen"
dabei waren, konnte nmn sich ruhig niederlassen.
Aber plötzlich hatte er etwas erlebt, was ihm
das Blut iu den Adern gerinnen ließ: einer
dieser „wackeren Feldgrauen" zerschlug mit
wuchtigen Hieben ein Gewehr an den steiner-
nen Stufen des Kaiser-Withelm-Denkmals an
der Promenade.
Brausende Beifallsrufe ertönten und —
Herr Nettebohm rief mit, aus Augst, daß
nmn seine wahre Gesinnung erkennen würde.
Es war kein.Zweifel, daß man dann das
nächste Gewehr an seinem Schädel zerschlagen
würde. . . .
In Schritt und Tritt marschierte er mit,
als es nun zum Schloß ging. Ost hatte er
Steine statt Brot
„Nu, aber hören Sic, das lctztemal haben Sic mich schlecht bedient,
da waren ja lauter Steine in der Kohle."
„Ja, davor ist's doch auch Stein-Kohle."
und jubelte den Unholden zu, die eben die
Posten entwaffneten und in das Schloß ein-
drangen, eine rote Fahne über ihren Köpfen
schwingend.
Es wurde hell.
Der Regierungsrat erhob sich. „Sie sind
ein Revolutionär," sagte er scharf. „Hüten
Sie sich, noch einmal an unserem monarchi-
schen Stammtisch zu erscheinen! Mit Schimpf
und Schande werden Sie davougejagtiverden!"
Nun war er fort.
Es wurde wieder dunkel. Und der unglück-
liche Herr Nettebohm saß geduckt und zer-
schmettert da und ließ all die blutrünstigen,
blödsinnigen Abenteuer des Wild-West-Filins
über sich ergehen. Er wagte sich nicht aus
Tageslicht und er flüchtete erst, als „Fritz-
chens Pumphose" von neuem begann.
Es war spät geworden. An ver-
schiedenen Häusern tauchten die be-
kannten Lichtpyramiden an den
Scheiben auf.
Als er die Wohnungstür öffnete,
lief seine Frau immer noch „wie
eine vergistete Ratte" umher. Nur
war auch ihre Stimmung wie das
Thermometer uin einige Grade ge-
sunken.
„Wo steckst du denn?" schrie sie.
„Seit Stunden warten wir auf dich.
Denkst du denn gar nicht an unsere
Bescherung?"
„Ach was," antwortete er grob.
„Die Bescherung habe ich längst ge-
habt. Eine schöne Bescherung. . . ."
Die Schuldigen
Sie können stundenlang reden, nur
um nicht sagen zu müssen: „Wir
ivagten 1914 den Griff nach der Welt-
herrschaft und wollten 1917 das arm«
selige Belgien nicht loslassen!"
hier gestanden, um an einem Fenster einen
Schatten von seinem Landesherrn zu erhaschen.
Diesmal galt es, ihn zu entthronen — Herrn
Nettebohm standen jetzt noch die Haare zu
Berge, wenn er daran dachte. Bald hatte er,
von den Hintermännern geschoben, auf der
Terrasse gestanden und-
Was war. das??
Auf der zitternden Leinwand vorn mar-
schierte er plötzlich sich selber entgegen, den
Hut schwenkend und den Mund groß aufge-
rissen !
Der Äegierungsrat stieß ihn zornig au.
Herr Nettebohm sandte ein Stoßgebet zum
Himmel, daß er den Fußboden öffnen und ihn
ein paar Klafter tief versinken lasse_Aber
sein Gebet wurde nicht erhört. Er blieb hier,
eingekeilt in der Sitzreihe, sitzen und mußte
die zischenden Worte seines Vorgesetzten hören:
„Was muß ich da erleben?"
„Herr Regierungsrat, ich versichere Sie,
ein Irrtum, ein unseliger Irrtum — —"
„Ist das auch ein Irrtum?" zischte der Vor-
gesetzte.
Oben auf dein Film stand Herr Nettebohm,
ivie er leibte und lebte, auf der Schloßterasse
Diese „Helden" waren nicht mutig
genug, den verlorenen Krieg abzu-
brechen; sie trachteten ihn nur zu verlängern
und zetern heute über die Revolution.
k
Heute sagt die ganze Clique: sie habe 1914
den Krieg nicht gewollt. Daß sie 1917 den Frie-
den nicht gewollt hat, ist inzwischen festgestellt
worden.
*
An der Unehrlichkeit Wilsons soll 1917 der
ehrliche deutsche Friedenswille gescheitert sein.
Uns scheint vielmehr, daß der damals noch
ehrliche Wilsonsche Friedenswille an der Un-
ehrlichkeit der deutschen obersten Heeresleitung
scheiterte. '
„Wenn's schief geht, bleibt uns immer noch
ein Untergang in Ehren!" So riefen damals
die Schuldigen, die heute wohlgenährte Zu-
schauer des deutschen Zusammenbruchs sind.
Hunderttausende sanken ins Grab; Millionen
hungern und frieren .. . nur die Schuldigen
selbst hat ihr Werk noch nicht beim Kragen
genommen. ^
Der Saal des Untersuchungsausschusses ist
die letzte „Ruhmeshalle" für das kaiserliche
Deutschland.