9890 -
Htt unsere Leser und Leserinnen!
Die ungemein starke Erhöhung der Herstellungskosten zwingen uns, den Preis der einzelnen Nummer des
Wahren Jacob von 20 auf 30 Pfennig zu erhöhen. N)ir zweifeln nicht daran, daß unsere Abonnenten
und Abonnentinnen den Mehrbetrag von 10 Pfennig für die Nummer gern und willig bezahlen werden, da sie
bereits durch die Zeitungen unterrichtet sind, wie ganz besonders die Papier- und Farbenpreise eine höhe an-
genommen haben, die man noch im vorigen Jahre für unmöglich gehalten hat, abgesehen von dem Steigen der
Arbeitslöhne. Aber auch den Kolporteuren muß jetzt eine Verbesserung ihrer Einnahmen zuteil werden, die nur
durch die Erhöhung des Verkaufspreises möglich ist. U)ir hoffen und bauen auf die so oft bewährte Treue unserer
Leser und Leserinnen. Sie wird uns auch in dieser schweren Zeit nicht im Stiche lassen.
Stuttgart. Anfang 1920 Oer Verlag des wahren Iaeob
Junker Metzenthins Kirsche.
Von Ernst Preczang.
„Du verstehst die Jugend nicht. Vater!"
„Ich bin vierzig Jahre Lehrer, mein Sohn."
Fritz zog die Stirn in Falten und hieb die
Brennesselköpfe am Wege mit seinem Spazier-
stöckchen ab: „Ich möchte dir nicht weh tun,
aber —"
„Sprich ganz offen, Junge. Du denkst: zehn,
zwanzig oder vierzig Jahre — was beweist
das? Es kann einer ewig Fremdling in seinem
Beruf, in seiner nächsten Umgebung bleiben.
Kann versuchen, sie mit dem spanischen Rohr
nach irgendeiner vorgefaßten Meinung zu mo-
deln, ohne auch nur eine einzige Seele zu er-
kennen. Gewalt! War's mein Mittel?"
„Nein. Eben, weil du alles mit Vernunft
und Güte meistern willst, darum —"
„Fällt's dir schwer, mich von dem Segen der
Gewalt zu überzeugen —ganz recht. Früher—",
der Vater lächelte dem Sohne schelmisch zu,
„früher befanden wir uns in diesem Punkt,
weyn ich nicht irre, in,der schönsten Harmonie.
Ich erinnere mich wenigstens nicht, daß du
oder ein anderer meiner Schüler je-
mals gegen meine Verachtung des
Rohrstocks protestiert hättest.' Es
ging auch so. Nun aber, du Revo-
lutionär, behauptest du: es geht
nicht!?"
Der Sohn hielt jäh im Gehen an:
„Ich sprach doch nicht von Kindern!"
„Nein. Du sprachst von der,allen,
greisenhaften Menschheit', die zu
ihrem Gtück gezwungen werden
müsse, wenn sie nicht anders den Weg
finde. Aber diese alte Menschheit ist
der Urbode» der neuen, die man nicht
einfach ins Grab schaufeln kann.
Sollte beim Alten fruchtbar sein,
was bei der Jugend elend versagt?"
„Verknöcherte Geister können eben
nicht mehr gebogen, sie müssen ge-
brochen werden."
„Gut. Brich die Geister, wenn du
es vermagst. Aber achte das Leben.
Wir sprechen von der physischen
Gemalt. Sprechen davon, ob sie
blühende-Zukunft aus einer Wüste
hervorzaubern kan». Ob das, was
in Jahrhunderten organisch wurde,
in einem Tage zertrümmert werden
darf, und ob die Faust, die es zer-
schlug, anr andern Tage die neue
Welt auf der Handfläche trägt. Aber-
glaube, mein Junge! Du kniest vor
einem Götzen und merkst es nicht. Vor dem
allerprimitivsten der Fetische: der Faustgewalt!
Kennst du ein greisenhafteres Götzenbild? Der
Urmensch schlug seinem Gegner einen Stein
auf den Schädel. Ihr Heutigen nehmt Hand-
granaten. Nennst du das einen Fortschritt? ...
Ich verstehe die Jugend nicht, sagst du. Ich
verstände sie besser, wenn sie weniger alt wäre.
Wenn sie abfallen würde von dem ältesten,
scheußlichsten der Götzendienste, dem Blut-
aberglauben der Gewalt. Wenn sie die wirk-
lich schöpferische Kraft erkenne» und ihr dienen
wollte, die über das Alte hinausweist und neue'
Welten bildet."
Der Sohn blickte betreten zur Erde und
fragte leise: „Aber wo ist sie, Vater, wo?!"
„Hier." Der Alte wies auf einen Kirschbaum,
der seine blühende Krone über eine manns-
hohe Weißdornhccke erhob. „Du kennst den
Baum?"
„Aber ja!" Fritz lächelte unwillkürlich. „Das
ist doch Junker Metzenthins Kirsche!"
„Freilich. Komm."
Sie traten durch eine Lücke des Weißdorns
auf den Friedhof. Hier, in einer geräumigen
Auslyndsware
„Ei, Herr Müller, was haben Sie denn da Schönes?"
„Na, hören. Se, das soll Schweizerkäse sein, und diese kleine Portion
kostet sechs Mark!"
„Ja, da kosten ja allein die Löcher fünf Mark fünfzig Pfennige!"
Ecke, erhob sich ein breites, wandartiges Mar-
mordenkmal mit der Inschrift:
„Edler Kranold von Metzenthin
* 15. 9. 1768, -f 5. 4. 1834.
Mein Weltlauf ist zu Ende.
Nun schließt mich fest und sicher ein,
Daß niemals Pöbelhände
Den edlen Staub entweihn."
Fritz las ^ und sagte zornig: „Welche
Arroganz!"
Der Vater lachte: „Welch schönes Selbst-
bewußtsein! Er war auch im Leben so, wie
ich hörte. Hatte stets die Reitpeitsche in der
Hand und traf Hunde oder Menschen — je
nachdem. Gewalt, lieber Fritz! Aber sein
Weltlauf ging zu Ende, und sie haben ihn
wunschgemäß eingemauert — hier vor dem
Denkmal in eine klobige Marmorkiste, die inan
später einmal zu öffnen versuchte. Es gelang
nicht. Die Gewalt versagte. Aber was siehst
du nun?"
„Die Kirsche wächst aus dem Grab."
„Ja, die Kirsche wächst aus dem Grab. Die
Zeit, siehst du, die brachte es fertig. Zuerst
war's ein haarfeiner Riß, der sich über die
Deckelplatte zog. Der Regen wusch,
der Wind feilte mit Sandkörnern
nach, die Seitenwände senkten sich.
Ganz allmählich, ganz geduldig.
Jahre — Jahrzehnte. Bis aus dem
haarfeinen Riß ein halbfingerbreiter
Spalt geworden war. Erde wehte
hinein. Ein Star, der hier vielleicht
sein Verdauungsschläfchen machte,
ließ unter anderem einen Kirschkern
zurück. Der bettete sich in den Spalt,
überwinterte hier, schlug Wurzeln.
Zarte'feine Wurzeln, mein Junge!
So schwach, daß ein Hauch sie zer-
reißen könnte. Aber sie entginge»
allen Gefahren, wie du siehst. Wühl-
ten sich tiefer und tiefer ein, wuchsen
und wuchsen, erstarkten und trieben
den Stamm nach oben. In jedem
Jahre setzte er seinen Ring an. In
jedem Jahre drückte er die gesprengte
Platte weiter auseinander. Jetzt?
Schau sie dir an. Kreuz und quer
laufen die Risse. Und. die Wurzeln
der Kirsche stecken tief und geruhig
im Staube des Edlen Kranold von
Metzenthin und reißen sein letztes
Haus langsam, aber mit unheim-
licher Kraft und Sicherheit ausein-
ander."
Der Sohn senkte den Kopf: „Ge-
duld ist so sehr schwer, Vater."
Htt unsere Leser und Leserinnen!
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Wahren Jacob von 20 auf 30 Pfennig zu erhöhen. N)ir zweifeln nicht daran, daß unsere Abonnenten
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bereits durch die Zeitungen unterrichtet sind, wie ganz besonders die Papier- und Farbenpreise eine höhe an-
genommen haben, die man noch im vorigen Jahre für unmöglich gehalten hat, abgesehen von dem Steigen der
Arbeitslöhne. Aber auch den Kolporteuren muß jetzt eine Verbesserung ihrer Einnahmen zuteil werden, die nur
durch die Erhöhung des Verkaufspreises möglich ist. U)ir hoffen und bauen auf die so oft bewährte Treue unserer
Leser und Leserinnen. Sie wird uns auch in dieser schweren Zeit nicht im Stiche lassen.
Stuttgart. Anfang 1920 Oer Verlag des wahren Iaeob
Junker Metzenthins Kirsche.
Von Ernst Preczang.
„Du verstehst die Jugend nicht. Vater!"
„Ich bin vierzig Jahre Lehrer, mein Sohn."
Fritz zog die Stirn in Falten und hieb die
Brennesselköpfe am Wege mit seinem Spazier-
stöckchen ab: „Ich möchte dir nicht weh tun,
aber —"
„Sprich ganz offen, Junge. Du denkst: zehn,
zwanzig oder vierzig Jahre — was beweist
das? Es kann einer ewig Fremdling in seinem
Beruf, in seiner nächsten Umgebung bleiben.
Kann versuchen, sie mit dem spanischen Rohr
nach irgendeiner vorgefaßten Meinung zu mo-
deln, ohne auch nur eine einzige Seele zu er-
kennen. Gewalt! War's mein Mittel?"
„Nein. Eben, weil du alles mit Vernunft
und Güte meistern willst, darum —"
„Fällt's dir schwer, mich von dem Segen der
Gewalt zu überzeugen —ganz recht. Früher—",
der Vater lächelte dem Sohne schelmisch zu,
„früher befanden wir uns in diesem Punkt,
weyn ich nicht irre, in,der schönsten Harmonie.
Ich erinnere mich wenigstens nicht, daß du
oder ein anderer meiner Schüler je-
mals gegen meine Verachtung des
Rohrstocks protestiert hättest.' Es
ging auch so. Nun aber, du Revo-
lutionär, behauptest du: es geht
nicht!?"
Der Sohn hielt jäh im Gehen an:
„Ich sprach doch nicht von Kindern!"
„Nein. Du sprachst von der,allen,
greisenhaften Menschheit', die zu
ihrem Gtück gezwungen werden
müsse, wenn sie nicht anders den Weg
finde. Aber diese alte Menschheit ist
der Urbode» der neuen, die man nicht
einfach ins Grab schaufeln kann.
Sollte beim Alten fruchtbar sein,
was bei der Jugend elend versagt?"
„Verknöcherte Geister können eben
nicht mehr gebogen, sie müssen ge-
brochen werden."
„Gut. Brich die Geister, wenn du
es vermagst. Aber achte das Leben.
Wir sprechen von der physischen
Gemalt. Sprechen davon, ob sie
blühende-Zukunft aus einer Wüste
hervorzaubern kan». Ob das, was
in Jahrhunderten organisch wurde,
in einem Tage zertrümmert werden
darf, und ob die Faust, die es zer-
schlug, anr andern Tage die neue
Welt auf der Handfläche trägt. Aber-
glaube, mein Junge! Du kniest vor
einem Götzen und merkst es nicht. Vor dem
allerprimitivsten der Fetische: der Faustgewalt!
Kennst du ein greisenhafteres Götzenbild? Der
Urmensch schlug seinem Gegner einen Stein
auf den Schädel. Ihr Heutigen nehmt Hand-
granaten. Nennst du das einen Fortschritt? ...
Ich verstehe die Jugend nicht, sagst du. Ich
verstände sie besser, wenn sie weniger alt wäre.
Wenn sie abfallen würde von dem ältesten,
scheußlichsten der Götzendienste, dem Blut-
aberglauben der Gewalt. Wenn sie die wirk-
lich schöpferische Kraft erkenne» und ihr dienen
wollte, die über das Alte hinausweist und neue'
Welten bildet."
Der Sohn blickte betreten zur Erde und
fragte leise: „Aber wo ist sie, Vater, wo?!"
„Hier." Der Alte wies auf einen Kirschbaum,
der seine blühende Krone über eine manns-
hohe Weißdornhccke erhob. „Du kennst den
Baum?"
„Aber ja!" Fritz lächelte unwillkürlich. „Das
ist doch Junker Metzenthins Kirsche!"
„Freilich. Komm."
Sie traten durch eine Lücke des Weißdorns
auf den Friedhof. Hier, in einer geräumigen
Auslyndsware
„Ei, Herr Müller, was haben Sie denn da Schönes?"
„Na, hören. Se, das soll Schweizerkäse sein, und diese kleine Portion
kostet sechs Mark!"
„Ja, da kosten ja allein die Löcher fünf Mark fünfzig Pfennige!"
Ecke, erhob sich ein breites, wandartiges Mar-
mordenkmal mit der Inschrift:
„Edler Kranold von Metzenthin
* 15. 9. 1768, -f 5. 4. 1834.
Mein Weltlauf ist zu Ende.
Nun schließt mich fest und sicher ein,
Daß niemals Pöbelhände
Den edlen Staub entweihn."
Fritz las ^ und sagte zornig: „Welche
Arroganz!"
Der Vater lachte: „Welch schönes Selbst-
bewußtsein! Er war auch im Leben so, wie
ich hörte. Hatte stets die Reitpeitsche in der
Hand und traf Hunde oder Menschen — je
nachdem. Gewalt, lieber Fritz! Aber sein
Weltlauf ging zu Ende, und sie haben ihn
wunschgemäß eingemauert — hier vor dem
Denkmal in eine klobige Marmorkiste, die inan
später einmal zu öffnen versuchte. Es gelang
nicht. Die Gewalt versagte. Aber was siehst
du nun?"
„Die Kirsche wächst aus dem Grab."
„Ja, die Kirsche wächst aus dem Grab. Die
Zeit, siehst du, die brachte es fertig. Zuerst
war's ein haarfeiner Riß, der sich über die
Deckelplatte zog. Der Regen wusch,
der Wind feilte mit Sandkörnern
nach, die Seitenwände senkten sich.
Ganz allmählich, ganz geduldig.
Jahre — Jahrzehnte. Bis aus dem
haarfeinen Riß ein halbfingerbreiter
Spalt geworden war. Erde wehte
hinein. Ein Star, der hier vielleicht
sein Verdauungsschläfchen machte,
ließ unter anderem einen Kirschkern
zurück. Der bettete sich in den Spalt,
überwinterte hier, schlug Wurzeln.
Zarte'feine Wurzeln, mein Junge!
So schwach, daß ein Hauch sie zer-
reißen könnte. Aber sie entginge»
allen Gefahren, wie du siehst. Wühl-
ten sich tiefer und tiefer ein, wuchsen
und wuchsen, erstarkten und trieben
den Stamm nach oben. In jedem
Jahre setzte er seinen Ring an. In
jedem Jahre drückte er die gesprengte
Platte weiter auseinander. Jetzt?
Schau sie dir an. Kreuz und quer
laufen die Risse. Und. die Wurzeln
der Kirsche stecken tief und geruhig
im Staube des Edlen Kranold von
Metzenthin und reißen sein letztes
Haus langsam, aber mit unheim-
licher Kraft und Sicherheit ausein-
ander."
Der Sohn senkte den Kopf: „Ge-
duld ist so sehr schwer, Vater."