9904
Englische Gefangenschaft
1. Der Feuerwehrhauptmann
Unter den Gefangenen, die in der englischen
Hafenstadt mit dem Beladen von Schiffen be-
schäftigt wurden, befand sich auch der Schlu-
decker Franz. Ein guter Kerl, bloß ein bißchen
schwerfällig. Er hörte, daß seine Kameraden
ab und zu eine Kiste, in der sie nach der eng-
lischen Aufschrift Schokolade vermuten durf-
ten, im Schiffsraum zu Boden fallen ließen,
so daß sie zerbrach. Die herausfallenden Scho-
koladctafeln nahmen sie mit, teils um sie selbst
zu verspeisen, teils um damit die englischen
Wachmannschaften zu schmieren, die auch gern
welche aßen und die deutschen Gefangenen
sogar förmlich anleiteten, Schokolade auf die
angegebene Weise „sreizumachen".
Den Schludecker Franz verdroß es,
daß er kein Englisch konnte und da-
her nie eine Schokoladekiste erwischte.
Einmal aber gelang ihm doch ein
Fang. Er nahm hocherfreut eine
etwas beschädigte Schachtel unter
seinem weiten Cape mit ins Lager.
Unterwegs erzählte er sein Glück
und lud die Kameraden zu einem
Schokoladeknabbern auf den Abend
«in. Als er dann vor den Augen
der Neugierigen das Paket öffnete,
kamen nicht weniger denn hundert
Klistierspritzen zuin Vorschein. Da
man diese nützlichen Instrumente in
der Soldatensprache als Handfeuer-
spritzen bezeichnet, erhielt Schlu-
decker von den enttäuschten Kame-
raden von dem Tag an die Be-
nennung „Feuerwehrhauptmann".
2. Cholera
So dämlich war der „Feuerwehr-
hauptmann" nun aber doch nicht,
daß er mit der Zeit die Schokolade-
kisten von denen mit Handfeuer-
spritzen nicht hätte unterscheide»
lernen. Eines Tages war ihm das
Glück wirklich hold. Er „fand" eine
Anzahl zerbrochener Schokolade-
tafeln und verstaute sie vor dem
Ausbruch ins Lager in seine weiten
Arbeitshosen, die er von den Wickel-
gamaschen bis zum Gürtel hinauf
vollstopfte. In dem Augenblick, als
er von Bord gehen wollte, trat ein
englischer Seeoffizier zu ihm und
sagte: „Lome along!“ Schludecker
folgte ihm schweren Herzens. Er
wurde in den Kesselrauin geführt,
wo eine tropische Temperatur herrschte, denn
das Schiff hatte Dampf aufgemacht zurAbfahrt.
In diesem überhitztenÄiaum mußte der Franz
zwei Stunde» lang mit den andern Trimmern
Kohlen schaufeln, bis ihm der Schweiß vom
Leib rann. Als er ins Lager kam, spürte er
so eine komische, schwere Weichheit u>n Len-
den und Schenkel. An deni nahen Bach zog
er sich splitternackt aus und kratzte die zähe
Schokoladeschmiere von Körper und Anzug.
Herannahende Neugierige hielt er sich vom
. Leib, indem er seine Unterhosen in der Lust
schwenkte und den Warnungsrus ausstieß:
„Cholera! Cholera!" Nilolaus Klotzhubcr
Eur wahres Geschichtchen
Vor Verdun. Besichtigung durch den Herrn
General. Der alte graue Herr, der gern den
Soldatenvater spielt, spricht ab und zu einen
Mann im Glied an. Bei einer Kompagnie
fällt ihm ein Unteroffizier auf, der eine Brille
trägt.
„Wie heißen Sie, mein Sohn?"
-„Unteroffizier Winter, Herr General."
„Und was sind Sie von Beruf?"
„Redakteur, Herr General."
Der General stutzt. Er sammelt sich indessen
sofort. . . .
„. .. Bei welcher Zeitung, wenn ich fragen
darf?"
„Beim Volksfreund in 3E."
Betroffen fährt der General einen Schritt
zurück. Er wittert Unrat. Doch er entschließt
sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
„Tja, nu, mein Lieber, sa'n Se mal, ... was
für '»e . .. äh . .. Richtung hat das Blatt?"
Aufs höchste gespannte Erwartung malt sich
Heimkehrer-Willkommen
„Ich schüttle Ihnen die Hand, wackerer Mann. Sie lernten leiden, ohne
zu klagen!"
„Danke schön. Doch Sie lernten klagen, ohne zu leiden, und so ergänzen
wir uns."
in seinen Zügen, und der alte Herr erhält
gewissermaßen einen Keulenschlag auf sein
ivürdiges Haupt, als der Unteroffizier sagt:
„Sozialdemokratisch, Herr General."
Der Soldatenpapa ist wie erschossen. Brüsk
bricht er den Verkehr ab und wendet sich zu
dem Hauptmann der Kompagnie.
„Sa'n Se mal, was ist das für ein Mann,
dieser äh ... sozialdemokratische Redakteur?"
„Mein tüchtigster Unteroffizier, Herr Gene-
ral. Sehr begabt und hochanständig."
„Nein, was Sie sagen!" — Die Augen des
Generals wandern in grenzenlosem Erstaunen
in die Ferne. — „Hm. Schade. Wirklich schade
um den Mann, daß man ihn nicht zum Off-
zier befördern kann."
„Sollte das nicht doch möglich sein, Herr
General?" entgegnete der Hauptmann etwas
schüchtern.
„Pah, denken Sie doch — den Fahneneid!"
„Den hat der Mann ja schon vor zehn
Jahren geleistet."
„So? Hm, dann allerdings. . ."
Plötzlich, wie von innen gestoßen, schreitet
der General noch einmal auf den Unteroffizier
zu und würdigt ihn einer längeren Unter-
haltung. Er legt ihm sogar die Hand auf die
Schulter und sagt: „Bitte rühren." Nach einer
Viertelstunde kehrt er zu dem Hauptmann zu-
rück, mit allen Zeichen höchster Verwunderung,
kopfschüttelnd, als sei ihm eben etwas ganz
Unbegreifliches widerfahren.
„Denken Sie sich, Herr Hauptmann, der
Mann ist ganz vernünftig. Nein, wirklich,
ganz vernünftig."
„Ich bin auch sehr zufrieden mit diesen
Sozialdemokraten. Ich habe ja neunzig Pro-
zent in der Kompagnie."
„Wa-neun --- zig-! Na, nu
hören Se aber auf! Schöne Be-
scherung!"
Und im Sturmschritt, mit fliegen-
. dem Mantel, läuft der Entsetzte an
der Front vorbei zur nächsten Kom-
pagnie. _ ^_ M
Der Demokrat
Eigentlich dreht, sich die kleine
Geschichte, die hier erzählt wer-
den soll, nicht so sehr um ihn selbst,
als vielmehr um seinen Großpapa,
den Freiheitskämpen von Achtund-
vierzig.
Voriges Jahr im Novembersturm
war's, da entsann sich der Demo-
krat, daß von seinem Großpapa noch
ein Bild auf dem Dachboden stehe
zwischen altem Gerümpel; das kramte
er hervor, putzte es und hing es an
jenen Nagel über dem Sofa, der bis
dahin das Bild seines Kaisers ge-
tragen halte.
Seitdem redete „Großpapa" wort-
los zu jedem Besucher von der ziel-
bewußten Unentwegtheit des Enkels,
stolz und aufrecht, die linke Hand
in der Bratenrockklappe, ganz wie
einst in der Paulssi^Ae, als er die
deutsche Verfassung „arechtzimmern
half.
Schließlich kriegte er sogar noch
einen Eichenkranz mit schwarzrot-
goldener Schleife umgehängt, als
die demokratische Partei wieder in
die Regierungskoalition eingetre-
ten war.
„Gott zum Gruß, meine Herren!"
sagte er freundlich zu der Partei-
kommission, die bei ihm mit der An-
frage erschien, ob er bereit sei, eine Kandi-
datur für die demokratische Partei anzu-
nehmen.
„Hier an d^r Wand hängt mein Großpapa,
der alte Achtundvierziger. .., der hat seine»
Freiheitssinn auf mich vererbt!"
Die Herren guckten bewundernd. Nur ein
Mißtrauischer wagte zu fragen:
„Schön! Aber wie steht's denn nun mit der
^Gelenkigkeit für unsere politischen Seiten-
sprünge? Ihr Großpapa sieht mir in dieser
Beziehung nicht besonders vertrauenswürdig
aus."
„Beruhigen Sie sich, meine Herren, was
die Gelenkigkeit betrifft, so habe ich sie von
meiner Großmama geerbt, die Balletteuse ge-
wesen ist!"
Beim Eintritt der elsässischen Deputierten
in die französische Kammer weinte Clömenceau.
Jin Pariser Zoo sollen die Krokodile mit-
geweinl haben.
Englische Gefangenschaft
1. Der Feuerwehrhauptmann
Unter den Gefangenen, die in der englischen
Hafenstadt mit dem Beladen von Schiffen be-
schäftigt wurden, befand sich auch der Schlu-
decker Franz. Ein guter Kerl, bloß ein bißchen
schwerfällig. Er hörte, daß seine Kameraden
ab und zu eine Kiste, in der sie nach der eng-
lischen Aufschrift Schokolade vermuten durf-
ten, im Schiffsraum zu Boden fallen ließen,
so daß sie zerbrach. Die herausfallenden Scho-
koladctafeln nahmen sie mit, teils um sie selbst
zu verspeisen, teils um damit die englischen
Wachmannschaften zu schmieren, die auch gern
welche aßen und die deutschen Gefangenen
sogar förmlich anleiteten, Schokolade auf die
angegebene Weise „sreizumachen".
Den Schludecker Franz verdroß es,
daß er kein Englisch konnte und da-
her nie eine Schokoladekiste erwischte.
Einmal aber gelang ihm doch ein
Fang. Er nahm hocherfreut eine
etwas beschädigte Schachtel unter
seinem weiten Cape mit ins Lager.
Unterwegs erzählte er sein Glück
und lud die Kameraden zu einem
Schokoladeknabbern auf den Abend
«in. Als er dann vor den Augen
der Neugierigen das Paket öffnete,
kamen nicht weniger denn hundert
Klistierspritzen zuin Vorschein. Da
man diese nützlichen Instrumente in
der Soldatensprache als Handfeuer-
spritzen bezeichnet, erhielt Schlu-
decker von den enttäuschten Kame-
raden von dem Tag an die Be-
nennung „Feuerwehrhauptmann".
2. Cholera
So dämlich war der „Feuerwehr-
hauptmann" nun aber doch nicht,
daß er mit der Zeit die Schokolade-
kisten von denen mit Handfeuer-
spritzen nicht hätte unterscheide»
lernen. Eines Tages war ihm das
Glück wirklich hold. Er „fand" eine
Anzahl zerbrochener Schokolade-
tafeln und verstaute sie vor dem
Ausbruch ins Lager in seine weiten
Arbeitshosen, die er von den Wickel-
gamaschen bis zum Gürtel hinauf
vollstopfte. In dem Augenblick, als
er von Bord gehen wollte, trat ein
englischer Seeoffizier zu ihm und
sagte: „Lome along!“ Schludecker
folgte ihm schweren Herzens. Er
wurde in den Kesselrauin geführt,
wo eine tropische Temperatur herrschte, denn
das Schiff hatte Dampf aufgemacht zurAbfahrt.
In diesem überhitztenÄiaum mußte der Franz
zwei Stunde» lang mit den andern Trimmern
Kohlen schaufeln, bis ihm der Schweiß vom
Leib rann. Als er ins Lager kam, spürte er
so eine komische, schwere Weichheit u>n Len-
den und Schenkel. An deni nahen Bach zog
er sich splitternackt aus und kratzte die zähe
Schokoladeschmiere von Körper und Anzug.
Herannahende Neugierige hielt er sich vom
. Leib, indem er seine Unterhosen in der Lust
schwenkte und den Warnungsrus ausstieß:
„Cholera! Cholera!" Nilolaus Klotzhubcr
Eur wahres Geschichtchen
Vor Verdun. Besichtigung durch den Herrn
General. Der alte graue Herr, der gern den
Soldatenvater spielt, spricht ab und zu einen
Mann im Glied an. Bei einer Kompagnie
fällt ihm ein Unteroffizier auf, der eine Brille
trägt.
„Wie heißen Sie, mein Sohn?"
-„Unteroffizier Winter, Herr General."
„Und was sind Sie von Beruf?"
„Redakteur, Herr General."
Der General stutzt. Er sammelt sich indessen
sofort. . . .
„. .. Bei welcher Zeitung, wenn ich fragen
darf?"
„Beim Volksfreund in 3E."
Betroffen fährt der General einen Schritt
zurück. Er wittert Unrat. Doch er entschließt
sich, der Sache auf den Grund zu gehen.
„Tja, nu, mein Lieber, sa'n Se mal, ... was
für '»e . .. äh . .. Richtung hat das Blatt?"
Aufs höchste gespannte Erwartung malt sich
Heimkehrer-Willkommen
„Ich schüttle Ihnen die Hand, wackerer Mann. Sie lernten leiden, ohne
zu klagen!"
„Danke schön. Doch Sie lernten klagen, ohne zu leiden, und so ergänzen
wir uns."
in seinen Zügen, und der alte Herr erhält
gewissermaßen einen Keulenschlag auf sein
ivürdiges Haupt, als der Unteroffizier sagt:
„Sozialdemokratisch, Herr General."
Der Soldatenpapa ist wie erschossen. Brüsk
bricht er den Verkehr ab und wendet sich zu
dem Hauptmann der Kompagnie.
„Sa'n Se mal, was ist das für ein Mann,
dieser äh ... sozialdemokratische Redakteur?"
„Mein tüchtigster Unteroffizier, Herr Gene-
ral. Sehr begabt und hochanständig."
„Nein, was Sie sagen!" — Die Augen des
Generals wandern in grenzenlosem Erstaunen
in die Ferne. — „Hm. Schade. Wirklich schade
um den Mann, daß man ihn nicht zum Off-
zier befördern kann."
„Sollte das nicht doch möglich sein, Herr
General?" entgegnete der Hauptmann etwas
schüchtern.
„Pah, denken Sie doch — den Fahneneid!"
„Den hat der Mann ja schon vor zehn
Jahren geleistet."
„So? Hm, dann allerdings. . ."
Plötzlich, wie von innen gestoßen, schreitet
der General noch einmal auf den Unteroffizier
zu und würdigt ihn einer längeren Unter-
haltung. Er legt ihm sogar die Hand auf die
Schulter und sagt: „Bitte rühren." Nach einer
Viertelstunde kehrt er zu dem Hauptmann zu-
rück, mit allen Zeichen höchster Verwunderung,
kopfschüttelnd, als sei ihm eben etwas ganz
Unbegreifliches widerfahren.
„Denken Sie sich, Herr Hauptmann, der
Mann ist ganz vernünftig. Nein, wirklich,
ganz vernünftig."
„Ich bin auch sehr zufrieden mit diesen
Sozialdemokraten. Ich habe ja neunzig Pro-
zent in der Kompagnie."
„Wa-neun --- zig-! Na, nu
hören Se aber auf! Schöne Be-
scherung!"
Und im Sturmschritt, mit fliegen-
. dem Mantel, läuft der Entsetzte an
der Front vorbei zur nächsten Kom-
pagnie. _ ^_ M
Der Demokrat
Eigentlich dreht, sich die kleine
Geschichte, die hier erzählt wer-
den soll, nicht so sehr um ihn selbst,
als vielmehr um seinen Großpapa,
den Freiheitskämpen von Achtund-
vierzig.
Voriges Jahr im Novembersturm
war's, da entsann sich der Demo-
krat, daß von seinem Großpapa noch
ein Bild auf dem Dachboden stehe
zwischen altem Gerümpel; das kramte
er hervor, putzte es und hing es an
jenen Nagel über dem Sofa, der bis
dahin das Bild seines Kaisers ge-
tragen halte.
Seitdem redete „Großpapa" wort-
los zu jedem Besucher von der ziel-
bewußten Unentwegtheit des Enkels,
stolz und aufrecht, die linke Hand
in der Bratenrockklappe, ganz wie
einst in der Paulssi^Ae, als er die
deutsche Verfassung „arechtzimmern
half.
Schließlich kriegte er sogar noch
einen Eichenkranz mit schwarzrot-
goldener Schleife umgehängt, als
die demokratische Partei wieder in
die Regierungskoalition eingetre-
ten war.
„Gott zum Gruß, meine Herren!"
sagte er freundlich zu der Partei-
kommission, die bei ihm mit der An-
frage erschien, ob er bereit sei, eine Kandi-
datur für die demokratische Partei anzu-
nehmen.
„Hier an d^r Wand hängt mein Großpapa,
der alte Achtundvierziger. .., der hat seine»
Freiheitssinn auf mich vererbt!"
Die Herren guckten bewundernd. Nur ein
Mißtrauischer wagte zu fragen:
„Schön! Aber wie steht's denn nun mit der
^Gelenkigkeit für unsere politischen Seiten-
sprünge? Ihr Großpapa sieht mir in dieser
Beziehung nicht besonders vertrauenswürdig
aus."
„Beruhigen Sie sich, meine Herren, was
die Gelenkigkeit betrifft, so habe ich sie von
meiner Großmama geerbt, die Balletteuse ge-
wesen ist!"
Beim Eintritt der elsässischen Deputierten
in die französische Kammer weinte Clömenceau.
Jin Pariser Zoo sollen die Krokodile mit-
geweinl haben.