. 9903
Die Oberamtsgeiß
(Eine wahre Begebenheir)
Es war in der Zeit, als eine Verordnung
die andere jagte und ein Erlas; nach dem an-
deren erschien, weil man glaubte, mit Erlassen
und Verordnungen die Schwierigkeiten zu über-
winden, die sich infolge der Blockade und dem
dadurch herbeigesührten Mangel an Nahrungs-
mitteln aufgetürmt halten.
Milch und Fleisch waren seltene und be-
gehrte Leckerbissen und für uns Großstädter
unerreichbar.
Was lag näher, als selbst Viehzucht zu
treiben, um zu der für die Kinder so nötigen
Milch zu komme». Ein Stall ist
vorhanden, Futter kann beschafft
werden, also auf zum Kauf eines
Kitzlein. Bald isl's groß, bald
kann's zum Bock geführt werden,
bald gibt's Milch! Die Augen der
Kinder glänzen, seit Wochen ist
kaum ein Tropfen Milch ins Haus
gekommen, also ■— welche Zu-
kunftsaussichleu!
Doch mit der Verordnung
Mächten usw. Unter den Tau-
senden von Erlassen, die wäh-
rend der Kriegszeit erschienen,
bestimmt auch einer, daß die Aus-
fuhr von Nutztieren aller Art in
eine andere Orlichast der ober-
amtlicheu Bestätigung bedarf.
Ob der Verkäufer des Geiß-
leins die Verordnung kannte?
Es war wohl mehr Bequemtich.
keit, als er erklärte: Den Trans-
port müsse» Sie selbst besorgen.
Der Kauf ist abgeschlossen, als
„Dreingabe" erhalte ich einen
Strick, und nun geht'S mit der
künftigen „Milchspenderin" zur
Station, um das kostbare Tier
an seinen Bestimmungsort über-
führen zu lassen. Auf dem Bahn-
Hof wird die Beförderung abge-
lehnt mit dem Hinweis auf das
Fehlen einer „Genehmigung des
Schultheißenamts". Also mit dem
Tierlein zum Schultheiß. — Es
fängt a» zu regnen. — DerSchu t-
heiß in V. lehnt die Ausstellung
einer Bescheinigung ab, weil das
Anivesen des Verläufers nicht zu
seinemBezirkgehört. „Sie müssen
die Genehmigung mR. einholen;
damit Sie keilten Anstand be-
kommen, werden Sie am besten
das Tier mitnehinen, damit es
der Herr Schultheiß in R. sieht," erläutert
a>ir der Biedere. Also fort nach R.! — Es
segnet in Strömen. —
Der Schultheiß in R. ist „irgendwo".
Tsäch zweistündigem Suchen gefunden, erklärt
dseser: „Das muß ei» Mißveritändnis fein,
für Sendungen ab Station V. bin ich nicht
iuilänoig."
Zurück zur Station V. — Es regnet ngch
"hui«. Der Stationsbeamte läßt mcitv
^'ißlem zwar zum Transport nicht zu, ist^>
jedoch — vermutlich erweicht durch meinen
Und des Tieres erbaruiungswürdigen Zu-
Itanü bereit, an das Schultheißenaml V.
telephonieren. Dieses erklärt sich von neueur
für unzuständig und verweist mich an das
Oberamt.
jliach langem Warten und steinerweichen-
dem Anflehe» des Telephonsräuleins erhalle
ich Verbindung und den Bescheid: „Es ist
ein Beschrieb des Geißleins einzusenden, das
Oberamt muß wissen, wie alt, welche Farbe,
welche Rasse!" Rrr! Schluß!
Ich Hube für den Tag genug und gehe (es
regnet Bindiaden) zum Verkäufer zurück; um
ihn mit Geld und guten Worten zu bitten,
das Tierlein noch so lange zu füttern, bis der
„Schein" da ist. Ausgehungert, naß bis auf
die Knochen, wütend, fluchend komme ich
nach Hause. Nach erfolgreich überstandenem
Schnupfen reiche ich — im Hinblick auf die
hungrigen Augen meiner Kinder — ein vor-
schriftmäßiges Gesuch um Überführung des
Tieres von V. nach B. ein und gebe Alter,
Rasse, Farbe usw. an. Nach einigen Tagen
erhalle ich auf dem Umweg über das Schult-
Ein Staatsretter
„Die Konterrevolution wird immer dringender. Früher konnten unsere Jungen in
der Militärkarriere noch General, ja Feldmarschall werden und in Zivil Gesandter
oder Minister — heule sind wir ganz auf unsere Klitsche angewiesen, und bei den
Zwangspreisen springt beim Kanofselbau nicht mal 'ne anständige Flasche Sekt raus."
heißenaint in R. (dem Wohnsitz des Verkäufers)
einen Versaudschein, der wie folgt lautet:
Herr.hier erhält hiermit die Erlaubnis.
an Herrn.in.ein zirka
5 Wochen altes weibliches Kitzchen von weißer
Farbe per Bahn zu übersenden.
Den 10. Juni 1916. Schultheißenamt.
Mit der gleichen Post kommt noch ein Brief.
Ich werfe ihn in die Ecke, uni eilig mit meinem
Schein zur Bahn zu schreiten. Unterwegs
werde ich von einem Freund aufgehalten, der
die Ursache meines vergnügten Aussehens
kennenlerueu will. Voll Stolz zeige ich niei-
men Schein. Während wir reden, holl mich
mein Junge ein mit dem Brief, den ich in
der Eile beiscite gelegt und den meine Frau
inzwischen gelesen hat. Atemlos ruft er:
„Vater, das Tier ist verreckt!" Ich erbleiche,
nehme den Brief, richtig, da steht: „Das Kitz-
lern ist vorgestern wegen dein Regen, in dem
Sie es herumgesührt haben, verreckt!"
Mein Freund lacht und heißt mich einen
Esel, weil ich das Vieh nicht auf den Arm
genonrmen oder in einen Sack gesteckt und inr
Personenwagen befördert habe, womit ich die
Verordnung umgangen hätte, um die sich doch
kein Mensch kümmere. Ich wanke heim und
lebe seither in der fixen Idee, daß das Kitz-
lein nicht „wegen dem Regen", sondern an
einer der tausend Verordnungen „verreckt" ist,
an denen schließlich der alte Siaat zugrunde
ging. .—K. M.
Ehrenrettung
Mancher glaubt, so ein Kettenhund auf dem
Lande, der die verrücktesten Bocksprünge macht,
weitir er hamsternde Städler zu
sehen kriegt, sei dumm und bös-
artig. Ich bestreite das! Ich habe
neulich mit. so einem Vieh ganz
was Seltsames erlebt und be-
haupte: auch die Tiefe der dörf-
lichen Hundeseele will nur er-
gründet sein, dann lernt man sie
schätzen.
Ich bin mit Krischan Piepen-
brink in Nordgoltern um sieben
Ecke» verwandt und nahin das
neulich zum Anlaß, mir einen
Rucksack auf den Buckel zu hängen
und mit der Straßenbahn raus-
zufahren. Nalürlich legte, kaum
daß ich Miene machte, den Hof
zu betreten, Kriichan Piepen-
brinks Kettenhund los und tobte
wie ein Agrarier, der aus der
Zwangswirtschaft in den freien
Handel hinaus will.
Für den oberflächlichen Be-
urleiler wäre dies vielleicht ein
Gehaben voll dummer Mord-
lust gewesen; ich aber, der ich
zum Nachdenken aufgelegt war,
blickte tiefer und sagte mir:
studier mal an der Canaille die
bodenständige Eigenart der hie-
sigen Lanvrasse . . . vielleicht
kommst du dann zu einem ge-
rechteren Urieil.
Ich guckte also und stutzte. Es
fiel mir auf, daß die Sprung-
figuren, die Krischan Piepen-
brinks Köter ausführte, kreuz
und qner, rauf und runter, stets
nach einiger Zeit wiederkehrtcn.
Es schien mir System in die-
sen Sprungfiguren zu sei»,'und
da blitzte auf einmal, gerade
als wieder der Köler einen Bo-
gen durch die Luft schlug, in
mir die Erkenntnis auf: das waren ja alles
Buchstaben! »
Ich habe mir den Sah ausgeschrieben,
der da zustande kam; ich hatte Zeit, ihn zu
sammenzukriegen, denn die Bestie wurde nicht
müde, ihn mir immer neu vorzutanzen. Er
lautet:
„Wi Heft sülivst nix tan äten, aber Bodder
sor fiefentwinlig Mark könnt Sei hcbben!"
Persönlich bemerke ich, daß ich von diesem
Angebot auch als Berivandter um sieben Ecken
herum keinen Gebrauch machte; ich fuhr mit
der Straßenbahn, die gerade tam, wieder nach
Hause.
Aber nun frage ich meine lieben Mit-
bürger: Kann ein Hund, der so lüge» kann
wie im ersten Teil jenes Satzes, für dumm
gelte»? Uno ist das bösartig, wenn er den
ganzen Spektakel nur deshalb macht, um
uns Butter für 25 Mark das Pfund zu ver-
kaufen? T
Die Oberamtsgeiß
(Eine wahre Begebenheir)
Es war in der Zeit, als eine Verordnung
die andere jagte und ein Erlas; nach dem an-
deren erschien, weil man glaubte, mit Erlassen
und Verordnungen die Schwierigkeiten zu über-
winden, die sich infolge der Blockade und dem
dadurch herbeigesührten Mangel an Nahrungs-
mitteln aufgetürmt halten.
Milch und Fleisch waren seltene und be-
gehrte Leckerbissen und für uns Großstädter
unerreichbar.
Was lag näher, als selbst Viehzucht zu
treiben, um zu der für die Kinder so nötigen
Milch zu komme». Ein Stall ist
vorhanden, Futter kann beschafft
werden, also auf zum Kauf eines
Kitzlein. Bald isl's groß, bald
kann's zum Bock geführt werden,
bald gibt's Milch! Die Augen der
Kinder glänzen, seit Wochen ist
kaum ein Tropfen Milch ins Haus
gekommen, also ■— welche Zu-
kunftsaussichleu!
Doch mit der Verordnung
Mächten usw. Unter den Tau-
senden von Erlassen, die wäh-
rend der Kriegszeit erschienen,
bestimmt auch einer, daß die Aus-
fuhr von Nutztieren aller Art in
eine andere Orlichast der ober-
amtlicheu Bestätigung bedarf.
Ob der Verkäufer des Geiß-
leins die Verordnung kannte?
Es war wohl mehr Bequemtich.
keit, als er erklärte: Den Trans-
port müsse» Sie selbst besorgen.
Der Kauf ist abgeschlossen, als
„Dreingabe" erhalte ich einen
Strick, und nun geht'S mit der
künftigen „Milchspenderin" zur
Station, um das kostbare Tier
an seinen Bestimmungsort über-
führen zu lassen. Auf dem Bahn-
Hof wird die Beförderung abge-
lehnt mit dem Hinweis auf das
Fehlen einer „Genehmigung des
Schultheißenamts". Also mit dem
Tierlein zum Schultheiß. — Es
fängt a» zu regnen. — DerSchu t-
heiß in V. lehnt die Ausstellung
einer Bescheinigung ab, weil das
Anivesen des Verläufers nicht zu
seinemBezirkgehört. „Sie müssen
die Genehmigung mR. einholen;
damit Sie keilten Anstand be-
kommen, werden Sie am besten
das Tier mitnehinen, damit es
der Herr Schultheiß in R. sieht," erläutert
a>ir der Biedere. Also fort nach R.! — Es
segnet in Strömen. —
Der Schultheiß in R. ist „irgendwo".
Tsäch zweistündigem Suchen gefunden, erklärt
dseser: „Das muß ei» Mißveritändnis fein,
für Sendungen ab Station V. bin ich nicht
iuilänoig."
Zurück zur Station V. — Es regnet ngch
"hui«. Der Stationsbeamte läßt mcitv
^'ißlem zwar zum Transport nicht zu, ist^>
jedoch — vermutlich erweicht durch meinen
Und des Tieres erbaruiungswürdigen Zu-
Itanü bereit, an das Schultheißenaml V.
telephonieren. Dieses erklärt sich von neueur
für unzuständig und verweist mich an das
Oberamt.
jliach langem Warten und steinerweichen-
dem Anflehe» des Telephonsräuleins erhalle
ich Verbindung und den Bescheid: „Es ist
ein Beschrieb des Geißleins einzusenden, das
Oberamt muß wissen, wie alt, welche Farbe,
welche Rasse!" Rrr! Schluß!
Ich Hube für den Tag genug und gehe (es
regnet Bindiaden) zum Verkäufer zurück; um
ihn mit Geld und guten Worten zu bitten,
das Tierlein noch so lange zu füttern, bis der
„Schein" da ist. Ausgehungert, naß bis auf
die Knochen, wütend, fluchend komme ich
nach Hause. Nach erfolgreich überstandenem
Schnupfen reiche ich — im Hinblick auf die
hungrigen Augen meiner Kinder — ein vor-
schriftmäßiges Gesuch um Überführung des
Tieres von V. nach B. ein und gebe Alter,
Rasse, Farbe usw. an. Nach einigen Tagen
erhalle ich auf dem Umweg über das Schult-
Ein Staatsretter
„Die Konterrevolution wird immer dringender. Früher konnten unsere Jungen in
der Militärkarriere noch General, ja Feldmarschall werden und in Zivil Gesandter
oder Minister — heule sind wir ganz auf unsere Klitsche angewiesen, und bei den
Zwangspreisen springt beim Kanofselbau nicht mal 'ne anständige Flasche Sekt raus."
heißenaint in R. (dem Wohnsitz des Verkäufers)
einen Versaudschein, der wie folgt lautet:
Herr.hier erhält hiermit die Erlaubnis.
an Herrn.in.ein zirka
5 Wochen altes weibliches Kitzchen von weißer
Farbe per Bahn zu übersenden.
Den 10. Juni 1916. Schultheißenamt.
Mit der gleichen Post kommt noch ein Brief.
Ich werfe ihn in die Ecke, uni eilig mit meinem
Schein zur Bahn zu schreiten. Unterwegs
werde ich von einem Freund aufgehalten, der
die Ursache meines vergnügten Aussehens
kennenlerueu will. Voll Stolz zeige ich niei-
men Schein. Während wir reden, holl mich
mein Junge ein mit dem Brief, den ich in
der Eile beiscite gelegt und den meine Frau
inzwischen gelesen hat. Atemlos ruft er:
„Vater, das Tier ist verreckt!" Ich erbleiche,
nehme den Brief, richtig, da steht: „Das Kitz-
lern ist vorgestern wegen dein Regen, in dem
Sie es herumgesührt haben, verreckt!"
Mein Freund lacht und heißt mich einen
Esel, weil ich das Vieh nicht auf den Arm
genonrmen oder in einen Sack gesteckt und inr
Personenwagen befördert habe, womit ich die
Verordnung umgangen hätte, um die sich doch
kein Mensch kümmere. Ich wanke heim und
lebe seither in der fixen Idee, daß das Kitz-
lein nicht „wegen dem Regen", sondern an
einer der tausend Verordnungen „verreckt" ist,
an denen schließlich der alte Siaat zugrunde
ging. .—K. M.
Ehrenrettung
Mancher glaubt, so ein Kettenhund auf dem
Lande, der die verrücktesten Bocksprünge macht,
weitir er hamsternde Städler zu
sehen kriegt, sei dumm und bös-
artig. Ich bestreite das! Ich habe
neulich mit. so einem Vieh ganz
was Seltsames erlebt und be-
haupte: auch die Tiefe der dörf-
lichen Hundeseele will nur er-
gründet sein, dann lernt man sie
schätzen.
Ich bin mit Krischan Piepen-
brink in Nordgoltern um sieben
Ecke» verwandt und nahin das
neulich zum Anlaß, mir einen
Rucksack auf den Buckel zu hängen
und mit der Straßenbahn raus-
zufahren. Nalürlich legte, kaum
daß ich Miene machte, den Hof
zu betreten, Kriichan Piepen-
brinks Kettenhund los und tobte
wie ein Agrarier, der aus der
Zwangswirtschaft in den freien
Handel hinaus will.
Für den oberflächlichen Be-
urleiler wäre dies vielleicht ein
Gehaben voll dummer Mord-
lust gewesen; ich aber, der ich
zum Nachdenken aufgelegt war,
blickte tiefer und sagte mir:
studier mal an der Canaille die
bodenständige Eigenart der hie-
sigen Lanvrasse . . . vielleicht
kommst du dann zu einem ge-
rechteren Urieil.
Ich guckte also und stutzte. Es
fiel mir auf, daß die Sprung-
figuren, die Krischan Piepen-
brinks Köter ausführte, kreuz
und qner, rauf und runter, stets
nach einiger Zeit wiederkehrtcn.
Es schien mir System in die-
sen Sprungfiguren zu sei»,'und
da blitzte auf einmal, gerade
als wieder der Köler einen Bo-
gen durch die Luft schlug, in
mir die Erkenntnis auf: das waren ja alles
Buchstaben! »
Ich habe mir den Sah ausgeschrieben,
der da zustande kam; ich hatte Zeit, ihn zu
sammenzukriegen, denn die Bestie wurde nicht
müde, ihn mir immer neu vorzutanzen. Er
lautet:
„Wi Heft sülivst nix tan äten, aber Bodder
sor fiefentwinlig Mark könnt Sei hcbben!"
Persönlich bemerke ich, daß ich von diesem
Angebot auch als Berivandter um sieben Ecken
herum keinen Gebrauch machte; ich fuhr mit
der Straßenbahn, die gerade tam, wieder nach
Hause.
Aber nun frage ich meine lieben Mit-
bürger: Kann ein Hund, der so lüge» kann
wie im ersten Teil jenes Satzes, für dumm
gelte»? Uno ist das bösartig, wenn er den
ganzen Spektakel nur deshalb macht, um
uns Butter für 25 Mark das Pfund zu ver-
kaufen? T