9927
Der Januar des neuen Jahres war schon
zur Hälfte vorübergegangen, als der Vater
mit etwas bedenklicher Miene sagte: Mir
scheint, als ob der Glanz nachläßt. Auch das
Weiß der Mandeln — hm, es ist sehr merk-
würdig — ja, auch ihre Schönheit fängt an,
ins Gelbe zu spielen. Ich glaube —"
„Ja," fiel Max eifrig ein, „hart wird er
auch. Fühle bloß mal. Am Ende breche ich
mir noch einen Zahn dabei aus. Dann muß
ich zum Zahnarzt — das kostet wieder Geld.
Nicht wahr, Mutter?"
„Ja ja," lachte die. „Beiß schon zu."
Max biß. Mit aller Kraft. Es knackte. Dann
zog und zerrte er, bis er endlich ein Stückchen
abgezwackt hatte. Er kaute und kaute. Sein
strahlendes Gesicht verlor den
freundlichen Schein. Er schluckte
mit großer Selbstüberwindung,
dann spie er aus, warf den Kuchen
hin, sagte zornig: „PfuiDeibel!"
und begann zu weinen.
„Aber Junge!" Die Mutter
bekam einen furchtbaren Schreck,
hackte sich auch mühsam ein Stück
mit den Zähnen ab, kaute mit
großer Nachdenklichkeit, sah ihren
Gatten schuldbewußt und hilfe-
flehend an—und geriet ins Schel-
ten. Mit zorngerötetem Gesicht
sprach sie von Betrug, von Säge-
spänen, faulen Kartoffeln, von
Pflaumenkernen und Gummi-
arabikum und weinte mit ihrem
Sohn.
Und auchder Vater hatte einen
mäßig bemessenen Kosthappen ge-
nommen. Aber er schalt nicht, er
weinte auch nicht, sondern sagte:
„Schade, daß du nicht doch sechs
gebracht, hast, Marie. Es ließe
sich eine schöne dauerhafte Kiste
daraus zinimern."
„Mir ist gar nicht spaßhaft zu-
mute," schluchzte die Frau.
„Mir auch nicht," heulte Max
und schleuderte den Kuchen wü-
tend vom Tisch.
„Wie undankbarihr doch seid!"
Der Vater schüttelte lachend den
Kopf. „Warum vergeht ihr die
wochenlange schöne Freude, die
wir daran gehabt haben?..."
Ein Durchhalter
Als mit Beginn des öden Stel-
lungskampfes, der militärischem
Ehrgeiz keine mühelosen Erfolge
verhieß, die Massenflucht der aktiven Herren
einsetzte, hielt es der Oberleutnant Geismar
ebenfalls für geraten, seine wertvolle Person
in Sicherheit zu bringen. Er hatte ausge-
knobelt, daß es bei der Kriegsamtstelle seines
Korps einen kugelsicheren Posten für ihn gab,
wo er den weiteren Verlauf des glorreichen
Feldzugs in Ruhe verfolgen konnte, und wo
cs an Stoff zur Begießung der dentschen Sieges-
taten nicht so sehr gebrach wie im Feld. „Die
Heimatfront in Schwung bringen", sagte er
zu dem Reserveleutnant, der die Kompagnie
übernahm.
Geismar kam zunächst als zweiter Offizier
auf ein Bureau der Reklamationsabteilung
und legte sich stramm ins Zeug. Er wollte
sich unentbehrlich machen. Dazu war unbe-
dingt nötig, den Geruch fieberhafter Betrieb-
samkeit zu verbreiten. Es gelang ihm auch^
restlos. Geismars Hauptmann litt an einer
krankhaften Vorliebe für starke Getränke; er
kam oft gar nicht in den Dienst und oft mit
einem katzengraucn Gesicht, aus dem der Mensch-
heit ganzer Jammer sah. Diese Schwäche war
den höheren Herren kein Geheimnis, aber sie
gingen mit einem verständnisvollen Verzeihen
darüber weg. Bekanntlich hackt auch beim Mili-
tär keine Krähe der anderen die Augen aus.
Besoffenheit gilt nur bei der Mannschaft als
Schweinerei, die Herren mit Achselstücken und
Raupen scheint sie vielmehr zu adeln.
Sobald Geismar fest im Sattel der Unab-
kömmlichkeit saß, leckte sein Ehrgeiz noch höher
hinauf. Er wollte selbständig werden. Er
verstand es. Tag für Tag eine Menge Leute
zu persönlicher Rücksprache auf dem Gang zu
versammeln und brachte es durch geschicktes
Journalisieren im Lauf weniger Monate aus
mehrere tausend Geschäftsnummern. So schuf
er die Vorbedingungen für seinen Antrag aus
Selbständigmachung seiner Abteilung, dem so-
fort stattgegeben wurde.
Die Abteilung Geismar wurde eröffnet mit
einem Offizier und vier Mann für Tagebuch
und Registratur. Bon diesem Augenblick an
erkaltete der Eifer des Oberleutnants sicht-
bar. Er schob die Erledigung der Akten sei-
nem Hilfsarbeiter zu, einem Gefreiten, der
den Beruf eines Rechtsanwalts ausübte. „Ich
bin als Abteilungsvorstand überhaupt nicht
zum Arbeiten da, ich organisiere bloß," pflegte
er zu sagen.
Auf dem Bureau schwang Geismar das
Zepter eines Paschas. Das Rauchen war das
erste, was er ihnen verbot. Wer einmal eine
halbe Stunde vor Torschluß aufgearbeitct
hatte, bekam rein zum Ausfüllen der Zeit
eine alle Liste abzuschreiben, die dann in den
Papierkorb flog. Er hielt es unter seiner Os-
sizierswürde, durch ein Wort der Anerkennung
die gute Stimmung zu freiwilliger Pflicht-
erfüllung hochzuhalten. Dergleichen hatte ein
preußischer Offizier gottlob nicht nötig. Für
Säumige gab es ja das Militärstrafgesetzbuch.
Sonntagsurlaub gab es nicht. Der Ober-
leutnant war das von der Kaserne so ge-
wöhnt, wo man den Sonntag als den Tag
des Alkohols fürchtete. Daß vierzigjährige Fa-
milienväter in diesem Punkt mehr Vertraue»
verdienten als junge Rekruten, kam seinem
lebensfremden Soldatengehirn nicht zum Be-
wußtsein. Auch das Tragen eigener Uniform-
stücke erlaubte er nicht. Die Leute mußten in
ihren stinkenden Drecklappen zum Dienst kom-
men. Nur der Offizier soll auS-
sehen wie ein Herr, der Man«
wie ein Kaffer.
Der Rechtsanwalt hatte zuerst
genug. Er meldete sich krank, und
Geismar mußte eine neue Kraft
anfordern, die ihm die Arbeit
tat. Auch vom Personal der Re-
gistratur drückte sich einer nach
dem andern.
Die Personalabteilung gab ihm
zu verstehen, daß er von sämt-
lichen Stellen des Generalkom-
mandos den größten Personal-
verbrauch habe, und wies ihm
zur Abwechslung einmal einen
Hilssdienstpflichtigen zu. Aber
der Mann war zu nichts zu ge-
brauchen. Er zählte bereits fünf-
zig Lenze und nahm absolut kei-
nen militärischen Schliff mehr
an. Weder Strammstehen noch
Anlegen der Flossen war ihm
beizubringen. Er unterstand sich
sogar, den Herrn Oberleutnant
per Sie anzureden.
Auch dieser widerborstige Un-
tergebene blieb nicht lange. Es
kamen von höheren Stellen viel«
Schriftstücke zurück mit den son-
derbarsten Schreibfehlern, und es
stellte sich heraus, daß derHilsS«
dienstmann etwas schwerhörig
war. Er hatte mehrfach die Flos-
kel „Dem Herrn Chef des Stabes
ergebenstübersandt" mißverstan-
den und geschrieben „verge-
bens übersandt". Oder anstatt
„An die Abteilung HB zustän-
digkeitshalber" schrieb er: „An
die Abteilung IIB umständ-
lichkeitshalber". In der Be-
rufsspalte einer Mannschaftsliste
hatte er in einem Fall statt „Weichenwärter"
den Beruf eingesetzt „Meuchelmörder". Von
einem Bürgermeisteramt verlangte er ein „Un-
beholsenheitszeugnis" statt eines Unbe-
scholtenheitszeugnisses. Und in einem Schrei-
ben an das Kriegsministerium, wo der Grad
der Dienstfähigkeit eines Offiziers zu erheben
war, schrieb er um den „Grad der Dienst-
freudigkeit".
Der Herr Ober bekam einen furchtbaren
Staucher vom Chef des Stabes, der sehr naiv
fragte, ob denn der Herr Oberleutnant vor
der Unterschrift den Inhalt der Schriftstücke
nicht genau nachprüfe. Die Unterhaltung, die
der Oberleutnant daraufhin mit dem schwer-
hörigen Hilssdienstpflichtigen pflog, endete da-
mit, daß der Angepfiffene seinen Hut aus dem
Schrank holte, die Türfalls in die Hand nahm
und sagte: „Wisset ihr was? Ihr könnt mich
alle.!" Er verschwand auf Nimmer-
wiedersehen.
Ztving-Ari
Die Rheinlandkommission hat unter dem Jubel der Bevöllerung ihre segensreiche
und auf die wahre Freiheit gerichtete Tätigkeit ausgenommen. Dr. Torten.
Der Januar des neuen Jahres war schon
zur Hälfte vorübergegangen, als der Vater
mit etwas bedenklicher Miene sagte: Mir
scheint, als ob der Glanz nachläßt. Auch das
Weiß der Mandeln — hm, es ist sehr merk-
würdig — ja, auch ihre Schönheit fängt an,
ins Gelbe zu spielen. Ich glaube —"
„Ja," fiel Max eifrig ein, „hart wird er
auch. Fühle bloß mal. Am Ende breche ich
mir noch einen Zahn dabei aus. Dann muß
ich zum Zahnarzt — das kostet wieder Geld.
Nicht wahr, Mutter?"
„Ja ja," lachte die. „Beiß schon zu."
Max biß. Mit aller Kraft. Es knackte. Dann
zog und zerrte er, bis er endlich ein Stückchen
abgezwackt hatte. Er kaute und kaute. Sein
strahlendes Gesicht verlor den
freundlichen Schein. Er schluckte
mit großer Selbstüberwindung,
dann spie er aus, warf den Kuchen
hin, sagte zornig: „PfuiDeibel!"
und begann zu weinen.
„Aber Junge!" Die Mutter
bekam einen furchtbaren Schreck,
hackte sich auch mühsam ein Stück
mit den Zähnen ab, kaute mit
großer Nachdenklichkeit, sah ihren
Gatten schuldbewußt und hilfe-
flehend an—und geriet ins Schel-
ten. Mit zorngerötetem Gesicht
sprach sie von Betrug, von Säge-
spänen, faulen Kartoffeln, von
Pflaumenkernen und Gummi-
arabikum und weinte mit ihrem
Sohn.
Und auchder Vater hatte einen
mäßig bemessenen Kosthappen ge-
nommen. Aber er schalt nicht, er
weinte auch nicht, sondern sagte:
„Schade, daß du nicht doch sechs
gebracht, hast, Marie. Es ließe
sich eine schöne dauerhafte Kiste
daraus zinimern."
„Mir ist gar nicht spaßhaft zu-
mute," schluchzte die Frau.
„Mir auch nicht," heulte Max
und schleuderte den Kuchen wü-
tend vom Tisch.
„Wie undankbarihr doch seid!"
Der Vater schüttelte lachend den
Kopf. „Warum vergeht ihr die
wochenlange schöne Freude, die
wir daran gehabt haben?..."
Ein Durchhalter
Als mit Beginn des öden Stel-
lungskampfes, der militärischem
Ehrgeiz keine mühelosen Erfolge
verhieß, die Massenflucht der aktiven Herren
einsetzte, hielt es der Oberleutnant Geismar
ebenfalls für geraten, seine wertvolle Person
in Sicherheit zu bringen. Er hatte ausge-
knobelt, daß es bei der Kriegsamtstelle seines
Korps einen kugelsicheren Posten für ihn gab,
wo er den weiteren Verlauf des glorreichen
Feldzugs in Ruhe verfolgen konnte, und wo
cs an Stoff zur Begießung der dentschen Sieges-
taten nicht so sehr gebrach wie im Feld. „Die
Heimatfront in Schwung bringen", sagte er
zu dem Reserveleutnant, der die Kompagnie
übernahm.
Geismar kam zunächst als zweiter Offizier
auf ein Bureau der Reklamationsabteilung
und legte sich stramm ins Zeug. Er wollte
sich unentbehrlich machen. Dazu war unbe-
dingt nötig, den Geruch fieberhafter Betrieb-
samkeit zu verbreiten. Es gelang ihm auch^
restlos. Geismars Hauptmann litt an einer
krankhaften Vorliebe für starke Getränke; er
kam oft gar nicht in den Dienst und oft mit
einem katzengraucn Gesicht, aus dem der Mensch-
heit ganzer Jammer sah. Diese Schwäche war
den höheren Herren kein Geheimnis, aber sie
gingen mit einem verständnisvollen Verzeihen
darüber weg. Bekanntlich hackt auch beim Mili-
tär keine Krähe der anderen die Augen aus.
Besoffenheit gilt nur bei der Mannschaft als
Schweinerei, die Herren mit Achselstücken und
Raupen scheint sie vielmehr zu adeln.
Sobald Geismar fest im Sattel der Unab-
kömmlichkeit saß, leckte sein Ehrgeiz noch höher
hinauf. Er wollte selbständig werden. Er
verstand es. Tag für Tag eine Menge Leute
zu persönlicher Rücksprache auf dem Gang zu
versammeln und brachte es durch geschicktes
Journalisieren im Lauf weniger Monate aus
mehrere tausend Geschäftsnummern. So schuf
er die Vorbedingungen für seinen Antrag aus
Selbständigmachung seiner Abteilung, dem so-
fort stattgegeben wurde.
Die Abteilung Geismar wurde eröffnet mit
einem Offizier und vier Mann für Tagebuch
und Registratur. Bon diesem Augenblick an
erkaltete der Eifer des Oberleutnants sicht-
bar. Er schob die Erledigung der Akten sei-
nem Hilfsarbeiter zu, einem Gefreiten, der
den Beruf eines Rechtsanwalts ausübte. „Ich
bin als Abteilungsvorstand überhaupt nicht
zum Arbeiten da, ich organisiere bloß," pflegte
er zu sagen.
Auf dem Bureau schwang Geismar das
Zepter eines Paschas. Das Rauchen war das
erste, was er ihnen verbot. Wer einmal eine
halbe Stunde vor Torschluß aufgearbeitct
hatte, bekam rein zum Ausfüllen der Zeit
eine alle Liste abzuschreiben, die dann in den
Papierkorb flog. Er hielt es unter seiner Os-
sizierswürde, durch ein Wort der Anerkennung
die gute Stimmung zu freiwilliger Pflicht-
erfüllung hochzuhalten. Dergleichen hatte ein
preußischer Offizier gottlob nicht nötig. Für
Säumige gab es ja das Militärstrafgesetzbuch.
Sonntagsurlaub gab es nicht. Der Ober-
leutnant war das von der Kaserne so ge-
wöhnt, wo man den Sonntag als den Tag
des Alkohols fürchtete. Daß vierzigjährige Fa-
milienväter in diesem Punkt mehr Vertraue»
verdienten als junge Rekruten, kam seinem
lebensfremden Soldatengehirn nicht zum Be-
wußtsein. Auch das Tragen eigener Uniform-
stücke erlaubte er nicht. Die Leute mußten in
ihren stinkenden Drecklappen zum Dienst kom-
men. Nur der Offizier soll auS-
sehen wie ein Herr, der Man«
wie ein Kaffer.
Der Rechtsanwalt hatte zuerst
genug. Er meldete sich krank, und
Geismar mußte eine neue Kraft
anfordern, die ihm die Arbeit
tat. Auch vom Personal der Re-
gistratur drückte sich einer nach
dem andern.
Die Personalabteilung gab ihm
zu verstehen, daß er von sämt-
lichen Stellen des Generalkom-
mandos den größten Personal-
verbrauch habe, und wies ihm
zur Abwechslung einmal einen
Hilssdienstpflichtigen zu. Aber
der Mann war zu nichts zu ge-
brauchen. Er zählte bereits fünf-
zig Lenze und nahm absolut kei-
nen militärischen Schliff mehr
an. Weder Strammstehen noch
Anlegen der Flossen war ihm
beizubringen. Er unterstand sich
sogar, den Herrn Oberleutnant
per Sie anzureden.
Auch dieser widerborstige Un-
tergebene blieb nicht lange. Es
kamen von höheren Stellen viel«
Schriftstücke zurück mit den son-
derbarsten Schreibfehlern, und es
stellte sich heraus, daß derHilsS«
dienstmann etwas schwerhörig
war. Er hatte mehrfach die Flos-
kel „Dem Herrn Chef des Stabes
ergebenstübersandt" mißverstan-
den und geschrieben „verge-
bens übersandt". Oder anstatt
„An die Abteilung HB zustän-
digkeitshalber" schrieb er: „An
die Abteilung IIB umständ-
lichkeitshalber". In der Be-
rufsspalte einer Mannschaftsliste
hatte er in einem Fall statt „Weichenwärter"
den Beruf eingesetzt „Meuchelmörder". Von
einem Bürgermeisteramt verlangte er ein „Un-
beholsenheitszeugnis" statt eines Unbe-
scholtenheitszeugnisses. Und in einem Schrei-
ben an das Kriegsministerium, wo der Grad
der Dienstfähigkeit eines Offiziers zu erheben
war, schrieb er um den „Grad der Dienst-
freudigkeit".
Der Herr Ober bekam einen furchtbaren
Staucher vom Chef des Stabes, der sehr naiv
fragte, ob denn der Herr Oberleutnant vor
der Unterschrift den Inhalt der Schriftstücke
nicht genau nachprüfe. Die Unterhaltung, die
der Oberleutnant daraufhin mit dem schwer-
hörigen Hilssdienstpflichtigen pflog, endete da-
mit, daß der Angepfiffene seinen Hut aus dem
Schrank holte, die Türfalls in die Hand nahm
und sagte: „Wisset ihr was? Ihr könnt mich
alle.!" Er verschwand auf Nimmer-
wiedersehen.
Ztving-Ari
Die Rheinlandkommission hat unter dem Jubel der Bevöllerung ihre segensreiche
und auf die wahre Freiheit gerichtete Tätigkeit ausgenommen. Dr. Torten.