9939
den Lenkern der Volksgeschicke gewesen ist. Der
„alte Fritz" nahm sogar Gewaltmaßregeln zu
Hilfe, um den Anbau zu fördern, und die rus-
sische Regierung setzte in den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts Prämien für die
größten Kartoffeln aus. Sie hatte es nötig.
Immerhin scheint die Produktion nicht in
dem wünschenswerten Maße gestiegen zu sein,
sonst wäre manches in den letzten Jahren wohl
anders gekominen. Mit dem fortschreitenden
Kartoffelmangel nahm auch die große Un-
ruhe zu — bis zur Katastrophe, die, wie der
Berliner sagt, „ein verfluchter Schlag in die
Kartoffeln" war.
Darum wird der kluge, vorausschauende Po-
litiker und Volkswirt in der leeren Trüffel-
schüssel des armen Mannes immer noch ein
paar beachtliche Anregungen entdecken. P-c.
Verhängnisvolle
Sparsamkeit
Eine russische Geschichte von
Ferdinand Madlinger
Man bittet zu beachten:
Eine russische Geschichte!
Aber ich möchte auch nicht,
daß Mißtrauische Verdacht
schöpften, ich hätte ein deut-
sches Vorkommnis lediglich
in russisches Gewand ge-
hüllt. Ich werde mich hüten!
Die innere Unmöglichkeit
eines solchen Argwohns
spränge übrigens dem ge-
neigten Leser von selbst in
die Augen, wenn er ver-
nimmt, wie ein Mann mit
List und Tücke der soldati-
schen Ehrenpflicht sich ent-
schlug, oder wenn er gar
an die Stelle vordringt, wo
es unbezweifelbar an den
Tag tritt, daß eine aktive
Militärperson im Offiziers-
rang gegen eine manimo-
nistische Versuchung nicht
die erwartete Widerstands-
kraft ausbrachie.
Solch moralijche Sumpf-
blumen gedeihen nur in
barbarischen Ländern, nicht
in dem heroischen Klima
Deutschlands, wo der Ruf der Unbestechlichkeit
bei Epaulettenträgern im Glanze vestalischer
Makellosigkeit schinnnert, wo jeder Untertan
den schlagfertigen Heldengeist und die Bereit-
schaft zum Opsertod mit dem Lagerbier so stark
einsaugt, daß ihm zeitlebens wie ein inimer-
währender Durst ein brünstiges Verlangen
nach dem Massengrab in der Seele brennt.
Nein, solch abscheuliche Gesinnungsverdor-
benheit, solch bodenlosen Moraltiefstand würde
man in Deutschlands Eichenhainen — gott-
lob— vergeblich suchen. Darum noch einmal:
Eine russische Geschichte! — — —
Im Kreise von Tschernsk im Gouverne-
ment Tula lebte Dimitri Pawloivitsch Na-
rischni, ein wohlhabender Bauer. Er besaß
ein gemauertes Haus, und an Ackerland und
Wald konnte er sich sogar mit dem Slarosten
des Dorfes messen. Ein Bärenkerl von Gestalt,
stiernackig, breitschulterig, mit schwersälligem
Gang. Im Auftreten hatte er etwas von einem
Kosakenhelman. Ein Wunder war es, daß die
Offiziere des Zaren ihn so lange übersehen und
»och nicht geholt hatten zum Kriegsdienst.
„Die Armen kommen zuerst dran," sagten
die Bauern und spien giftig aus.
Dimitri Pawloivitsch war jedoch nicht ver-
gessen. Eines Morgens erhielt aitch er eine
Order. Er mußte sich ungesäumt nach Tschernsk
begeben behufs Vornahme der ärztlichen Unter-
suchung und Einstellung.
Frau und Kinder und das ganze weibliche
Gesinde standen weinend im Hofe, als Di-
mitri mit dem alten Fuhrknecht den Schlitten
anschirrte. Ein froststarrender Morgen war
es von klirrender Kälte, daß die Dohlen tot
aus der Luft fielen und den Weibern die
Tränen aus den blauen Backen gefroren.
Diniitri gab den langhaarigen Pferdchen
die Peitsche und fuhr neben dem Knecht mit
lustigemSchellengeklingel davon. „AufWieder-
Zur Erinnerung
Was man alles für ein goldenes Zwanzigmarkskück im Jahre 1920 Kaufen Kann.
sehen, Mamnschka," rief er noch zurück. „Mor-
gen komme ich wieder."
Glaubte er selbst daran? Wollte er nur
sein Weib aufheitern? Die Helle Zuversicht
lachte aus seinem breiten, gutmütigen Ge-
sicht. Aber wie viele waren schon so ge-
gangen, hatten der Weiber wegen den Kopf
hoch getragen und waren nicht mehr heim-
gekehrt. Er war ja kerngesund. Kein Fehler-
chen an ihm zu entdecken. Ihn sollten sie lau-
fen lasse»?
Dimitri hielt Wort. Er kam wieder.
„Ein Teufelskerl," murrten die Nachbarn,
und sie gaben sich leine Mühe, Arger und
Neid zu verbergen. „Dem Popensohn gerät
alles. Wie mag er es nur anstellen?"
Schmieren? Freilich schmieren. Das wuß-
ten die Bauern wohl. Es ist nur leichter ge-
sagt als getan. Wie macht man es bei den
großen Herren? Wenn es den Bauern auf
ein paar Rubel schon nicht ankam, über die
Art und Weise, sie anzubringen, ging ihnen
jede Kenntnis ab.
Wie willst du einen hohen Militärarzt
schmieren, den du erst im Augenblick der
Untersuchung kennenlernst? Von dem du weder
Namen noch Wohnort weißt? Wie willst du
an solche Herren herankommen, ohne dich der
Gefahr schimpflicher Abweisung oder gar Be-
strafung auszusetzen?
Dazu gehört verteufeltes Geschick. Soll es
gelingen, muß es auf eine feine Art, eine ge-
wandte Art geschehen. Es muß vor allem in
einer unauffälligen und heimlichen Weise vor
sich gehen, die für den gnädigen Herrn jede
Gefahr der Entdeckung ausschließt.
Wie erfährt man überhaupt, ob einer nimmt?
Man hörte immer wieder von dem und jenem
erzählen, daß er nicht nahm. Danach mußte
es genug solcher Schurken, solcher heimtücki-
schen Teufel geben.
Dimitri Pawloivitsch war ein Schlaufuchs.
Er verriet nichts von seinen Geheimnissen.
In solchen Angelegenheiten pflegt die Vor-
bedingung des Erfolgs ge-
rade in der zuverlässigen
Verschwiegenheit zu beru-
hen. Dimitri war viel zu
vorsichtig, um sein Glück
leichtfertig aufs Spiel zu
setzen. Langjährige Erfah-
rung wies ihm den richtigen
Weg im Verkehr mit russi-
schen Amtspersonen, sich
beliebt zu machen und ihre
Gunst zu sichern.
Nur einmal verstand er
sich dazu, den Schleier zu
lüften. Das war damals,
' als sei» Bruder Stepan, der
einige Werst entfernt in ei-
nem Dorf verheiratet war,
vorbeifuhr auf dem Wege
nach Tschernsk. Der Arme
hatte ebenfalls eine Order
bekommen.
„Was, du auch, Bruder-
herz?" fragte Dimitri und
lachte aus vollem Halse, daß
seine fetten Schultern zitter-
ten. „Der Teufel hole alle
Militärärzte des Zaren! Wie
viele Söhne der heiligen
Mutter Rußland wollen sie
noch in den Rokitnosümpfen
ertränken zu Ehren des Nar-
ren in Petrograd? Luinpen-
hunde, räudige, verdammte!
An den Galgen mit den Ha-
lunken !"
Dimitris Weib bekreuzigte sich angstvoll und
legte dem respektwidrigen Sprecher die Hand
auf den Mund.
Stepan nickte wehmütig und seufzte. Er
hatte alle Hoffnung aufgegeben.
„Mich werden sie bestimmt nehmen. Ich
bin ja gottlob völlig gesund — leider! Nicht
die kleinste Erkältung, kein Hüstchc», kein
Zahnschmerzchen, nicht das leiseste Bauchweh,
das geringste Durchfällchen. Sollte nran's
denken? Ist es nicht zum Verzweifeln, Di-
mitri, vor Gesundheit zu strotzen, wenn man
un> Gottes willen ein bißchen krank sein sollte!
Gib mir einen Rat, Bruderherz. Wie hast
du es denn gemacht?"
Dimitri räusperte sich. „Ah, Brüderlein,
das will ich dir gern sagen. Geh, Mamnschka,
sieh nach, ob die Mägde arbeiten! Paß
auf, Stepan. So war eS: Als ich mich splitter-
nackt vor dem Stabsarzt ausziehen mußte,
nahm ich eine Tausendrubelnote zur Hand,
faltete sie zusammen und schob sie — nun
rat' mal, wohin?"
Dimitri blickte den Bruder pfiffig an. Der
zog nachdenklich die Stirn kraus. „Wohin?
Ei, nun wohin, da du ganz nackt warst?"
den Lenkern der Volksgeschicke gewesen ist. Der
„alte Fritz" nahm sogar Gewaltmaßregeln zu
Hilfe, um den Anbau zu fördern, und die rus-
sische Regierung setzte in den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts Prämien für die
größten Kartoffeln aus. Sie hatte es nötig.
Immerhin scheint die Produktion nicht in
dem wünschenswerten Maße gestiegen zu sein,
sonst wäre manches in den letzten Jahren wohl
anders gekominen. Mit dem fortschreitenden
Kartoffelmangel nahm auch die große Un-
ruhe zu — bis zur Katastrophe, die, wie der
Berliner sagt, „ein verfluchter Schlag in die
Kartoffeln" war.
Darum wird der kluge, vorausschauende Po-
litiker und Volkswirt in der leeren Trüffel-
schüssel des armen Mannes immer noch ein
paar beachtliche Anregungen entdecken. P-c.
Verhängnisvolle
Sparsamkeit
Eine russische Geschichte von
Ferdinand Madlinger
Man bittet zu beachten:
Eine russische Geschichte!
Aber ich möchte auch nicht,
daß Mißtrauische Verdacht
schöpften, ich hätte ein deut-
sches Vorkommnis lediglich
in russisches Gewand ge-
hüllt. Ich werde mich hüten!
Die innere Unmöglichkeit
eines solchen Argwohns
spränge übrigens dem ge-
neigten Leser von selbst in
die Augen, wenn er ver-
nimmt, wie ein Mann mit
List und Tücke der soldati-
schen Ehrenpflicht sich ent-
schlug, oder wenn er gar
an die Stelle vordringt, wo
es unbezweifelbar an den
Tag tritt, daß eine aktive
Militärperson im Offiziers-
rang gegen eine manimo-
nistische Versuchung nicht
die erwartete Widerstands-
kraft ausbrachie.
Solch moralijche Sumpf-
blumen gedeihen nur in
barbarischen Ländern, nicht
in dem heroischen Klima
Deutschlands, wo der Ruf der Unbestechlichkeit
bei Epaulettenträgern im Glanze vestalischer
Makellosigkeit schinnnert, wo jeder Untertan
den schlagfertigen Heldengeist und die Bereit-
schaft zum Opsertod mit dem Lagerbier so stark
einsaugt, daß ihm zeitlebens wie ein inimer-
währender Durst ein brünstiges Verlangen
nach dem Massengrab in der Seele brennt.
Nein, solch abscheuliche Gesinnungsverdor-
benheit, solch bodenlosen Moraltiefstand würde
man in Deutschlands Eichenhainen — gott-
lob— vergeblich suchen. Darum noch einmal:
Eine russische Geschichte! — — —
Im Kreise von Tschernsk im Gouverne-
ment Tula lebte Dimitri Pawloivitsch Na-
rischni, ein wohlhabender Bauer. Er besaß
ein gemauertes Haus, und an Ackerland und
Wald konnte er sich sogar mit dem Slarosten
des Dorfes messen. Ein Bärenkerl von Gestalt,
stiernackig, breitschulterig, mit schwersälligem
Gang. Im Auftreten hatte er etwas von einem
Kosakenhelman. Ein Wunder war es, daß die
Offiziere des Zaren ihn so lange übersehen und
»och nicht geholt hatten zum Kriegsdienst.
„Die Armen kommen zuerst dran," sagten
die Bauern und spien giftig aus.
Dimitri Pawloivitsch war jedoch nicht ver-
gessen. Eines Morgens erhielt aitch er eine
Order. Er mußte sich ungesäumt nach Tschernsk
begeben behufs Vornahme der ärztlichen Unter-
suchung und Einstellung.
Frau und Kinder und das ganze weibliche
Gesinde standen weinend im Hofe, als Di-
mitri mit dem alten Fuhrknecht den Schlitten
anschirrte. Ein froststarrender Morgen war
es von klirrender Kälte, daß die Dohlen tot
aus der Luft fielen und den Weibern die
Tränen aus den blauen Backen gefroren.
Diniitri gab den langhaarigen Pferdchen
die Peitsche und fuhr neben dem Knecht mit
lustigemSchellengeklingel davon. „AufWieder-
Zur Erinnerung
Was man alles für ein goldenes Zwanzigmarkskück im Jahre 1920 Kaufen Kann.
sehen, Mamnschka," rief er noch zurück. „Mor-
gen komme ich wieder."
Glaubte er selbst daran? Wollte er nur
sein Weib aufheitern? Die Helle Zuversicht
lachte aus seinem breiten, gutmütigen Ge-
sicht. Aber wie viele waren schon so ge-
gangen, hatten der Weiber wegen den Kopf
hoch getragen und waren nicht mehr heim-
gekehrt. Er war ja kerngesund. Kein Fehler-
chen an ihm zu entdecken. Ihn sollten sie lau-
fen lasse»?
Dimitri hielt Wort. Er kam wieder.
„Ein Teufelskerl," murrten die Nachbarn,
und sie gaben sich leine Mühe, Arger und
Neid zu verbergen. „Dem Popensohn gerät
alles. Wie mag er es nur anstellen?"
Schmieren? Freilich schmieren. Das wuß-
ten die Bauern wohl. Es ist nur leichter ge-
sagt als getan. Wie macht man es bei den
großen Herren? Wenn es den Bauern auf
ein paar Rubel schon nicht ankam, über die
Art und Weise, sie anzubringen, ging ihnen
jede Kenntnis ab.
Wie willst du einen hohen Militärarzt
schmieren, den du erst im Augenblick der
Untersuchung kennenlernst? Von dem du weder
Namen noch Wohnort weißt? Wie willst du
an solche Herren herankommen, ohne dich der
Gefahr schimpflicher Abweisung oder gar Be-
strafung auszusetzen?
Dazu gehört verteufeltes Geschick. Soll es
gelingen, muß es auf eine feine Art, eine ge-
wandte Art geschehen. Es muß vor allem in
einer unauffälligen und heimlichen Weise vor
sich gehen, die für den gnädigen Herrn jede
Gefahr der Entdeckung ausschließt.
Wie erfährt man überhaupt, ob einer nimmt?
Man hörte immer wieder von dem und jenem
erzählen, daß er nicht nahm. Danach mußte
es genug solcher Schurken, solcher heimtücki-
schen Teufel geben.
Dimitri Pawloivitsch war ein Schlaufuchs.
Er verriet nichts von seinen Geheimnissen.
In solchen Angelegenheiten pflegt die Vor-
bedingung des Erfolgs ge-
rade in der zuverlässigen
Verschwiegenheit zu beru-
hen. Dimitri war viel zu
vorsichtig, um sein Glück
leichtfertig aufs Spiel zu
setzen. Langjährige Erfah-
rung wies ihm den richtigen
Weg im Verkehr mit russi-
schen Amtspersonen, sich
beliebt zu machen und ihre
Gunst zu sichern.
Nur einmal verstand er
sich dazu, den Schleier zu
lüften. Das war damals,
' als sei» Bruder Stepan, der
einige Werst entfernt in ei-
nem Dorf verheiratet war,
vorbeifuhr auf dem Wege
nach Tschernsk. Der Arme
hatte ebenfalls eine Order
bekommen.
„Was, du auch, Bruder-
herz?" fragte Dimitri und
lachte aus vollem Halse, daß
seine fetten Schultern zitter-
ten. „Der Teufel hole alle
Militärärzte des Zaren! Wie
viele Söhne der heiligen
Mutter Rußland wollen sie
noch in den Rokitnosümpfen
ertränken zu Ehren des Nar-
ren in Petrograd? Luinpen-
hunde, räudige, verdammte!
An den Galgen mit den Ha-
lunken !"
Dimitris Weib bekreuzigte sich angstvoll und
legte dem respektwidrigen Sprecher die Hand
auf den Mund.
Stepan nickte wehmütig und seufzte. Er
hatte alle Hoffnung aufgegeben.
„Mich werden sie bestimmt nehmen. Ich
bin ja gottlob völlig gesund — leider! Nicht
die kleinste Erkältung, kein Hüstchc», kein
Zahnschmerzchen, nicht das leiseste Bauchweh,
das geringste Durchfällchen. Sollte nran's
denken? Ist es nicht zum Verzweifeln, Di-
mitri, vor Gesundheit zu strotzen, wenn man
un> Gottes willen ein bißchen krank sein sollte!
Gib mir einen Rat, Bruderherz. Wie hast
du es denn gemacht?"
Dimitri räusperte sich. „Ah, Brüderlein,
das will ich dir gern sagen. Geh, Mamnschka,
sieh nach, ob die Mägde arbeiten! Paß
auf, Stepan. So war eS: Als ich mich splitter-
nackt vor dem Stabsarzt ausziehen mußte,
nahm ich eine Tausendrubelnote zur Hand,
faltete sie zusammen und schob sie — nun
rat' mal, wohin?"
Dimitri blickte den Bruder pfiffig an. Der
zog nachdenklich die Stirn kraus. „Wohin?
Ei, nun wohin, da du ganz nackt warst?"