10165 •——-
Michels Prozeß
Der Bauer Michel, ein Mann von ziem-
licher Wohlhabenheit und großem, frucht-
barem Besitz, war mit seinen Nachbarn in
Streit geraten. Vielleicht geht es ihm zu gut,
vielleicht waren auch die anderen keine Engel,
jedenfalls ließen sie alle es sich nicht mehr an
ruhiger Arbeit und friedlichem Lebensgenuß
genügen, sondern fingen Prozesse an. Ein
Prozeß, so hat mal einer gesagt, ist eine große,
gutgeschliffene Schere. Die Schneiden sind die
Juristen, und was dazwischen ist, das sind
die streitenden Parteien. Dennoch gibt es
Leute, die sich gern von dieser Schere zwicken,
guetschen und schneiden lassen — und auch
Michel und seinen Gegnern machte es Spaß.
Es war ein teures, sehr teures Vergnügen.
Von beiden Seilen wurde mit der Zeit alles
in den Prozeß hineingebuttert, was da war.
Die Häuser verfielen, die Scheuern brachen
zusammen, die Wiesen wurden sauer, die
Acker verkamen. Denn die Streitenden hatten
iveder Geld noch Zeit, sich um diese alltäg-
lichen Dinge zu kümmern. Statt mit der Hacke
auss Feld zu gehen und Früchte zu bauen,
lauerten sie einander auf und schlugen sich
die Köpfe blutig. Daneben machten sie Schul-
den über Schulden und hungerten, daß ihnen
die Schwarte knackte. Das Vergnügen dauerte
mehrere Jahre. Aber auch die klügsten und
zähesten Juristen konnten schließlich nicht an-
ders, als diesen Prozeß, der für die Ewigkeit
gemacht schien, noch im Diesseits zu beendigen.
Michel verlor den Prozeß. Er wurde ver-
knackst und zwar heftig. Man nahm ihm zu-
nächst ein paar strittige Grundstücke ab und
verlangte im übrigen Schadenersatz. Alles, was
dieser famose, amüsante Prozeß gekostet und
ruiniert hatte, sollte Michel nun aufbringen.
Da kratzte Michel sich den verbeulten Schädel,
wandelte durch Haus, Stall und Scheuern und
suchte zusammen, was etiva noch verwertbar
sei: Geräte, Wagen, Pferde, Vieh — fast alles
gab er hin.
Die Juristen der Gegenseite aber hielten
eine Konferenz ab und beschlossen, Michel
habe vor allen Dingen auch bar zu zahlen.
Michel holte den langen Wollstrumpf, der
einmal dick und prall von Gold und Silber
gewesen, und hielt ihn den Gegnern geöffnet
hin. Sie konnten bis auf die Sohle sehen,
aber Gold und Silber sahen sie nicht.
Darum veranstalteten sie eine neue Be-
sprechung und beschlossen, Michel habe eine
noch viel größere Summe zu zahlen.
Michel ging an den Zaun und kehrte die
zerrissenen Taschen um, so daß die Sonne
hindurchschien.
Die gegnerischen Juristen ärgerten sich und
hielten eine Konferenz ab. Diese beschloß ein-
stimmig, Michel habe unter allen Umständen
bar zu zahlen.
Michel verkaufte seine letzte Kuh, den letzten
lahmen Schimmel und ein halbverhungertes
Schwein und^brachte das Geld seinen Prozeß-
gegnern. .
Da hielten die anderen eine Konferenz ab
und kamen überein, diese Verhöhnung mit
Zwangsmaßnahmen zu beantworten.
Eines Tages langten sie mit dem Gerichts-
vollzieher auf Michels Gehöft an. Sie krochen
durchs ganze Haus, kramten Schrank und
Kommode aus, durchstöberten die.halbvxrfal-
lenen Ställe, Remisen, Scheuern und fanden
so wenig, daß ihnen die Galle ins Blut ging.
„Geld!" schrien die Eingedrungencn.
„Laßt mich arbeiten," sagte Michel.
„Erst zahlen!" Und sie kriegten ihn zu packen,
stellten ihn auf den Kopf, schüttelten ihn und
warteten, daß die Dukaten aus den Hosen
rollen sollten. Da das nicht geschah, zogen
sie ihn aus, klebten ihm ein blaues Siegel
auf den Podex und ließen ihn fallen.
Und dann hielten sie gleich eine Konferenz
ab und beschlossen einstimmig, Michel habe
ihnen 42 Jahre als Knecht zu dienen.
„Steh auf," sagten sie. „Wir wollen Milde
walten lassen und —"
„Er stirbt," warf der Gerichtsvollzieher ein.
„Unsinn. Wir haben es ihm nicht erlaubt—"
Aber Michel hatte wirklich das Atmen ein-
gestellt und lag steif, friedlich lächelnd da.
„Und die Kosten der Beerdigung?" fragte
der Gerichtsvollzieher. „Die übernehmen Sie
wohl, meine Herren."
Da sahen sich die weisen Juristen ganz ver-
dutzt an und klagten über den ergebnislosen
Prozeß, bei dein sie nicht auf die Kosten ge-
kommen seien. Pan
Wahlgespräch
Frau Hausbesitzer Schmudicke unterhielt sich
mit ihrer Portierfrau über die preußische Wahl.
„Ich," sagte sic, „wähle deutschnalional. Das
sollten Sie auch tun. Dann kriegen wir unfern
lieben Kaiser wieder zurück, und er führt uns
herrlichen Tagen entgegen."
„Braucht er jar nid)," erwiderte die Portiers-
frau, „die haben wir ja schon."
Amschreibungen
In Berlin wurde eine Höflich-
keits-Woche veranstaltet. Wer
am höflichsten war, bekam einen
Preis. Da es sich empfehlen
dürfte, die Höflichkeit in den
Umgangsformen auch weiterhin
beizubehalten, teilen wir fol-
gende Umschreibungen mit, die
bei der nächsten Höflichkeits-
Woche zweifellos einen Preis
bekommen werden.
Wenn man zu jemand sagen
möchte: „Du Rindvieh", ver-
kneift man es sich und sagt nur:
„Du hast bei den Preußenwah-
len wohl deutsch-national
gestimmt?"
Will man jemand als Schie-
ber und Steuerbemogler kenn-
zeichnen, fragt man nur: „Ent-
sck,uldigen Sie, sind Sie viel-
leicht mit Herrn van den Kerk-
hoff verwandt?"
Will man jemand als Frech-
ling und dummdreisten Menschen
festnageln, fragt man: „Haben
Sie auch in das Klitzingsche
Hoch auf Wilhelm im Landes-
Okonomiekollegium einge-
stimmt ?"
Einen Rowdy und Totschläger
fragt man: „Entschuldigen Sie,
haben Sievielleicht auch inMar-
burg studiert?"
Will man einem klarmachen,
daß er alles verkehrt und tol-
patschig macht, sagt man: „Sie
sind wohl Mitglied der baye-
rischen Regierung?"
* Sicherung ❖
„Habt man keine Lange nicht, Linder, die Entente Wird nicht dulden, datz ich
abi,ratze. Ich Habe die 4000 Eoldmark noch nicht bezahlt,
die jeder Deutsche ihr schuldig ist."
Soll jemand als politische
Wetterfahne charakterisiert wer-
den, fragt man: „Wie lange sind
Sie schon bei'der Deutschen
Volkspartei?"
Wenn jemand kriegsbegeistert
ist und du ihm am liebsten eine
runlerhauen möchtest, frage nur:
„Sie haben wohl auch die Me-
nüs im GroßenHauptguar-
tier nlitgegessen?" <£
Splitter
Die Geburtsaristokratie ist das
Gegenstück zu einem dummen
Volke, die Geldaristokratie das
Gegenstück zu einem armen Volke.
k
Tie edlen Männer leiden um
das Volk, die unedlen Männer
leiten das Volk.
k
Große Gedanken sind Funk-
sprüche des Menschengeistes.
k
Die Urteile der Richter sind
öfters sensationeller als die
Straftaten der Verbrecher. KL
k
Die Militaristen wollen wieder
einen kleinen Kreuzer bauen für
120 Millionen Mark. Es würde
sich empfehlen, dem Schiff gleich
einen englischen Namen zu geben;
das erspart« das Umlaufen.
k
Die 226 Milliarden sind die
Rechnung für das gehabte Ver-
gnügen d:r wilhelminischen
„herrlichen Zeiten". Kl—r
Michels Prozeß
Der Bauer Michel, ein Mann von ziem-
licher Wohlhabenheit und großem, frucht-
barem Besitz, war mit seinen Nachbarn in
Streit geraten. Vielleicht geht es ihm zu gut,
vielleicht waren auch die anderen keine Engel,
jedenfalls ließen sie alle es sich nicht mehr an
ruhiger Arbeit und friedlichem Lebensgenuß
genügen, sondern fingen Prozesse an. Ein
Prozeß, so hat mal einer gesagt, ist eine große,
gutgeschliffene Schere. Die Schneiden sind die
Juristen, und was dazwischen ist, das sind
die streitenden Parteien. Dennoch gibt es
Leute, die sich gern von dieser Schere zwicken,
guetschen und schneiden lassen — und auch
Michel und seinen Gegnern machte es Spaß.
Es war ein teures, sehr teures Vergnügen.
Von beiden Seilen wurde mit der Zeit alles
in den Prozeß hineingebuttert, was da war.
Die Häuser verfielen, die Scheuern brachen
zusammen, die Wiesen wurden sauer, die
Acker verkamen. Denn die Streitenden hatten
iveder Geld noch Zeit, sich um diese alltäg-
lichen Dinge zu kümmern. Statt mit der Hacke
auss Feld zu gehen und Früchte zu bauen,
lauerten sie einander auf und schlugen sich
die Köpfe blutig. Daneben machten sie Schul-
den über Schulden und hungerten, daß ihnen
die Schwarte knackte. Das Vergnügen dauerte
mehrere Jahre. Aber auch die klügsten und
zähesten Juristen konnten schließlich nicht an-
ders, als diesen Prozeß, der für die Ewigkeit
gemacht schien, noch im Diesseits zu beendigen.
Michel verlor den Prozeß. Er wurde ver-
knackst und zwar heftig. Man nahm ihm zu-
nächst ein paar strittige Grundstücke ab und
verlangte im übrigen Schadenersatz. Alles, was
dieser famose, amüsante Prozeß gekostet und
ruiniert hatte, sollte Michel nun aufbringen.
Da kratzte Michel sich den verbeulten Schädel,
wandelte durch Haus, Stall und Scheuern und
suchte zusammen, was etiva noch verwertbar
sei: Geräte, Wagen, Pferde, Vieh — fast alles
gab er hin.
Die Juristen der Gegenseite aber hielten
eine Konferenz ab und beschlossen, Michel
habe vor allen Dingen auch bar zu zahlen.
Michel holte den langen Wollstrumpf, der
einmal dick und prall von Gold und Silber
gewesen, und hielt ihn den Gegnern geöffnet
hin. Sie konnten bis auf die Sohle sehen,
aber Gold und Silber sahen sie nicht.
Darum veranstalteten sie eine neue Be-
sprechung und beschlossen, Michel habe eine
noch viel größere Summe zu zahlen.
Michel ging an den Zaun und kehrte die
zerrissenen Taschen um, so daß die Sonne
hindurchschien.
Die gegnerischen Juristen ärgerten sich und
hielten eine Konferenz ab. Diese beschloß ein-
stimmig, Michel habe unter allen Umständen
bar zu zahlen.
Michel verkaufte seine letzte Kuh, den letzten
lahmen Schimmel und ein halbverhungertes
Schwein und^brachte das Geld seinen Prozeß-
gegnern. .
Da hielten die anderen eine Konferenz ab
und kamen überein, diese Verhöhnung mit
Zwangsmaßnahmen zu beantworten.
Eines Tages langten sie mit dem Gerichts-
vollzieher auf Michels Gehöft an. Sie krochen
durchs ganze Haus, kramten Schrank und
Kommode aus, durchstöberten die.halbvxrfal-
lenen Ställe, Remisen, Scheuern und fanden
so wenig, daß ihnen die Galle ins Blut ging.
„Geld!" schrien die Eingedrungencn.
„Laßt mich arbeiten," sagte Michel.
„Erst zahlen!" Und sie kriegten ihn zu packen,
stellten ihn auf den Kopf, schüttelten ihn und
warteten, daß die Dukaten aus den Hosen
rollen sollten. Da das nicht geschah, zogen
sie ihn aus, klebten ihm ein blaues Siegel
auf den Podex und ließen ihn fallen.
Und dann hielten sie gleich eine Konferenz
ab und beschlossen einstimmig, Michel habe
ihnen 42 Jahre als Knecht zu dienen.
„Steh auf," sagten sie. „Wir wollen Milde
walten lassen und —"
„Er stirbt," warf der Gerichtsvollzieher ein.
„Unsinn. Wir haben es ihm nicht erlaubt—"
Aber Michel hatte wirklich das Atmen ein-
gestellt und lag steif, friedlich lächelnd da.
„Und die Kosten der Beerdigung?" fragte
der Gerichtsvollzieher. „Die übernehmen Sie
wohl, meine Herren."
Da sahen sich die weisen Juristen ganz ver-
dutzt an und klagten über den ergebnislosen
Prozeß, bei dein sie nicht auf die Kosten ge-
kommen seien. Pan
Wahlgespräch
Frau Hausbesitzer Schmudicke unterhielt sich
mit ihrer Portierfrau über die preußische Wahl.
„Ich," sagte sic, „wähle deutschnalional. Das
sollten Sie auch tun. Dann kriegen wir unfern
lieben Kaiser wieder zurück, und er führt uns
herrlichen Tagen entgegen."
„Braucht er jar nid)," erwiderte die Portiers-
frau, „die haben wir ja schon."
Amschreibungen
In Berlin wurde eine Höflich-
keits-Woche veranstaltet. Wer
am höflichsten war, bekam einen
Preis. Da es sich empfehlen
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Umgangsformen auch weiterhin
beizubehalten, teilen wir fol-
gende Umschreibungen mit, die
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Woche zweifellos einen Preis
bekommen werden.
Wenn man zu jemand sagen
möchte: „Du Rindvieh", ver-
kneift man es sich und sagt nur:
„Du hast bei den Preußenwah-
len wohl deutsch-national
gestimmt?"
Will man jemand als Schie-
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zeichnen, fragt man nur: „Ent-
sck,uldigen Sie, sind Sie viel-
leicht mit Herrn van den Kerk-
hoff verwandt?"
Will man jemand als Frech-
ling und dummdreisten Menschen
festnageln, fragt man: „Haben
Sie auch in das Klitzingsche
Hoch auf Wilhelm im Landes-
Okonomiekollegium einge-
stimmt ?"
Einen Rowdy und Totschläger
fragt man: „Entschuldigen Sie,
haben Sievielleicht auch inMar-
burg studiert?"
Will man einem klarmachen,
daß er alles verkehrt und tol-
patschig macht, sagt man: „Sie
sind wohl Mitglied der baye-
rischen Regierung?"
* Sicherung ❖
„Habt man keine Lange nicht, Linder, die Entente Wird nicht dulden, datz ich
abi,ratze. Ich Habe die 4000 Eoldmark noch nicht bezahlt,
die jeder Deutsche ihr schuldig ist."
Soll jemand als politische
Wetterfahne charakterisiert wer-
den, fragt man: „Wie lange sind
Sie schon bei'der Deutschen
Volkspartei?"
Wenn jemand kriegsbegeistert
ist und du ihm am liebsten eine
runlerhauen möchtest, frage nur:
„Sie haben wohl auch die Me-
nüs im GroßenHauptguar-
tier nlitgegessen?" <£
Splitter
Die Geburtsaristokratie ist das
Gegenstück zu einem dummen
Volke, die Geldaristokratie das
Gegenstück zu einem armen Volke.
k
Tie edlen Männer leiden um
das Volk, die unedlen Männer
leiten das Volk.
k
Große Gedanken sind Funk-
sprüche des Menschengeistes.
k
Die Urteile der Richter sind
öfters sensationeller als die
Straftaten der Verbrecher. KL
k
Die Militaristen wollen wieder
einen kleinen Kreuzer bauen für
120 Millionen Mark. Es würde
sich empfehlen, dem Schiff gleich
einen englischen Namen zu geben;
das erspart« das Umlaufen.
k
Die 226 Milliarden sind die
Rechnung für das gehabte Ver-
gnügen d:r wilhelminischen
„herrlichen Zeiten". Kl—r