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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 38.1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.6706#0063
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10189 *

ten. Die äußeren Verhältnisse lagen ja jetzt
anscheinend genau so wie damals. Die Mon-
archie war gestürzt, und wenn der entthronte
Herrscher auch nicht auf dem Konkordienplatz
„in den Sack gespuckt" hatte (vergl. die Ab-
bildung), so saß er doch, ziemlich unschädlich,
im Exil zu Chiselhurst. Die Reaktion unter-
handelte, wie damals, mit dem Landesfeind,
um mit dessen Hilfe das eigene Volk zu knebeln,
und ebenso wie damals verkörperten sich allein
in der revolutionären Masse alle die Kräfte,
die die Würde der Nation wahrten und einer
besseren Zukunft entgegenstrebten.

Aber der äußere Schein trog. In Wahrheit
lagen die Dinge 1871 ganz anders als 1792.

die der Gang der Ereignisse nicht gehemmt
werden kann, so entsprach doch — und das
war das Entscheidende — diesmal die äußere
Form leider durchaus dem wahren Wesen der
Dinge. Die revolutionäre Masse umfaßte 1792
das gesamte französische Volk mit Ausnahme
der wenigen privilegierten Stände, deren Un-
tergang bereits historisch besiegelt war; die
von 1871 aber bestand fast nur aus dem fort-
geschrittenen Pariser Proletariat, dem sich
einige radikale Kleinbürgerkreise angeschlossen
hatten. Die gewaltige Mehrheit der Bevölke-
rung — die Wahlen zur Nationalversammlung
hatten es bewiesen — war noch durchaus reak-
tionär gesonnen, stand hinter der Regierung

ment das Staatsruder nicht nur zu ergreifen,
sondern auch durch Entfaltung großer, rück-
sichtsloser Energie so lange zu behaupten, bis
es ihr gelungen, die Masse des Volkes in die
Revolution hineinzureißen und um die führende
kleine Schar zu gruppieren." Aber der revo-
lutionäre Wille begeisterter und opferfreudiger
Führer genügt nicht, um dieses Ziel zu er-
reichen. Die wirtschaftlichen und sozialen
Grundbedingungen müssen erst gegeben sein,
damit dieMasse desVolks sich von den wenigen
Pfadfindern in die Revolution hineinreißen
läßt, damit die durch Gewalt errungene reale
Macht festwurzeln und im organischen Aus-
bau dauernd fruchtbaren Boden fassen kann.

Die Rache der Versailler

Zunächst war der Landesfeind jetzt unver-
gleichlich viel gefährlicher als damals. Er be-
drohte nicht nur die Grenzen, sondern er stand
unmittelbar vor den Mauern der Hauptstadt.
Das Schicksal der Pariser Kommune lag in
der Hand der Deutschen, die ihr, wenn sie es
wollten, jeden Augenblick den Garaus machen
konnten. Und tatsächlich ist es ja auch Bis-
marck gewesen, der durch die Freigabe der
französischen Gefangenen das Ende der Kom-
mune herbeiführte. Aber auch rein formal war
die Stellung der Reaktion jetzt eine andere
als damals. Ludwig XVI. und seine Kamarilla
hatten einfach Hochverrat begangen, als sie
mit dem Landesfeinde konspirierten, die fran-
zösische Regierung von 1871 aber durfte sich
immerhin auf das Mandat berufen, das ihr
von der Nationalversammlung, den erwählten
Vertretern des Volks, erteilt worden war. Und
wenn auch solche formalen Bedenken in revo-
lutionären Zeiten nur Zwirnsfäden sind, durch

und dachte nicht daran, mit den Föderierten in
Paris gemeinsame Sache zu machen. Die wirt-
schaftliche und kulturelle Entwicklung Frank-
reichs war für den praktischen Sozialismus
noch keineswegs reif. Und so erscheint die
Pariser Kommune von 1871, von historischer
Warte betrachtet, als eine vorzeitige Frühlings-
blüte, die nicht Bestand haben konnte, sondern
der rauhen Wirklichkeit mit ihren unausbleib-
lichen Nachtfrösten alsbald zum Opfer fallen
mußte.

Die Männer der 1871er Kommune glaubten,
und darin bestand die Tragik ihres Geschicks,
an die Möglichkeit einer Minderheitsdiktatur.
„Großgezogen in der Schule der Verschwö-
rung," sagt Friedrich Engels von ihnen, „zu-
sammengehalten durch die ihr entsprechende
straffe Disziplin, gingen sie von der Ansicht
aus, daß eine verhältnismäßig kleine Zahl
entschlossener, wohlorganisierter Männer im-
stande sei, in einem gegebenen günstigen Mo-

Wo diese Grundbedingungen noch nicht vor-
handen sind, da wird jede Minderheitsdiktatur,
trotz aller Intelligenz, aller Kühnheit und alles
Opfermutes ihrer Träger, eine zum Leben und
zur Fortpflanzung unfähige Frühgeburt blei-
ben, deren tragisches Schicksal sich früher oder
später mit Notwendigkeit erfüllen muß. Sie
kann im günstigsten Falle vorbildliche Helden
und Märtyrer zeitigen, aber Dauer und Ent-
wicklung zum Segen des Proletariats kann ihr
nicht beschieden sein.

* , *

So werden die Helden und Märtyrer der
Kommune fortleben in der unauslöschlichen Er-
innerung des internationalen Proletariats. Sie
sind, wie Karl Marx sagt, als Vorboten einer
neuen Gesellschaft „eingeschreint in dem großen
Herzen der Arbeiterklasse". Ihr Schicksal aber
ist eine ernste Lehre, an der auch die Revo-
lutionäre unserer Tage nicht achtlos vorüber-
gehen sollten. John Schtlowskt
 
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