10201
In der Moschee zu Nahib lag
(Ein Heiliger begraben.
Die Pilger kamen scharenweis
Mit Opfern und mit Gaben.
Hassan, der weise Ulema,
Hielt Wacht am Sarkophage
Und nebenbei am Opfcrstock
An jedem Wallfahrtstage.
So ward der fromme Hassan reich. —
O Allah, fei gepriesen I
Du hast dich deinem frommen Knecht
Als guter Herr erwiesen I-
Der Diener Hassans, Ali Dschedd,
Bat seinen Herrn bescheiden:
„O Herr, mein Lohn ist zu gering.
Ich muß oft Hunger leiden!"
„Mein Sohn," sprach Hassan, „irdisch Gut
Ist sündiges Begehren.
Der Lohn winkt dir im Paradies,
Hier sollst du ihn entbehren.
Die Welt will betrogen
Denn Demut und Entsagung schützt
Dich vor dem Sündcnfalle." —
Darauf stahl Ali seinem Herrn
Den Esel aus dem Stalle
Und ritt hinaus durchs Wüstenland
Zu grünenden Oasen.
Dort fiel der Esel plötzlich um.
Verendend auf dem Rasen.
Ali begrub das graue Tier
Mit Bügel, Zaum und Zügel
Und setzte ihm verzweiflungsvoll
Aus Steinen einen Hügel.
Dann sprach er schmerzlich ein Gebet
Und hielt das Grab umklammert.
Ein Wandrer kam des Wegs daher
Und frug, warum er jammert.
„Ein Heiliger", sprach Ali ernst,
„Ruht unter diesen Steinen,
Er hat voin Fieber mich geheilt,
Drum muß ich freudig weinen."
Der Wandrer, betend, gab ihm Geld,
Dem Heiligen zum Zeichen.
Ein zweiter, dritter Wandrer kam,
Und jeder tat desgleichen.
Schnell wuchs die neue Wundermär
Und gab dem Volk zu denken.
Die Pilger kamen scharenweis
Mit Opfern und Geschenken.
Bald hatte Ali Geld wie Heu
Und hundert Haremsfrauen.
Er ließ die herrlichste Mosches
Dem Heiligen erbauen. - - -
Hassan verdroß die Konkurrenz,
Denn spärlich floß die Gabe.
Zn wissen, wo das Wunder war.
Griff er zum Wnnderstabe.
„Bist du es, Ali? Grüß dich Gott l"
Rief Hassan mit Erstaunen.
„O sprich, wie heißt der heil'ge Mann,
Von dem die Gläub'gen raunen?"
Und Ali sprach geheimnisvoll:
Hier ruht in diesem Grabe
Dein Esel, Herr, den ich — verzeih! —
Dir einst gestohlen habe!"
„Wie sonderbar!" sprach Hassan drauf.
„Ha, alles ist Theater!
In meinem Heiligtum, mein Freund,
Ruht deines Esels Vater!
Ja ja, die guten Moslems find
Leichtgläubige Naturen!" —
Dann drückten beide sich die Hand,
Wie römische Auguren.
Viktor Kalinowski
Der Galgen
Die deutschnationale Presse
inacht Stimmllng für Strick und
Galgen, für „Härte und rück-
sichtsloses Zugreifen, selbst wenn
dabei mißleitetes deutsches Blut
fließt". Gerichtsverhandlungen
sehen die Aufrührer seelenruhig
entgegen, sagt sie — meint da-
bei aber nicht die Putschisten von
rechts, sondern von links. Und
empfiehlt für diese eben: auf-
knüpfen an Ort und Stelle.
In früheren Zeiten war es
zuweilen schwierig, Leute zu fin-
den, die einen Galgen errichteten.
Das Volk sah sie ähnlich an wie
Scharfrichter und Schinder, setzte
sich nicht mit ihnen an einen Tisch
und ging um sie herum wie um
stinkende Haufen. Da mußte denn
oft das Los entscheiden, wer
zwangsweise zu dieser schimpf-
lichen Tätigkeit verpflichtet wer-
den sollte.
Das wäre heute nicht nötig.
Die hakenkreuzlerischen Junker
und Oberlehrer, Gymnasiasten
und nicht wenig Juristen würden
mit Wonne den Galgen aufrich-
ten, und auch an Henkern wäre
sicher kein Mangel.
Das Volk würde wie früher
um sie herumgehen, und die alte
Schinderverachtung käme viel-
leicht von neuem zu Ehren.
Allerdings: es könnte auch an-
ders kommen. Möglicherweise
genügte manchem die übliche
Galgenarchitektur nicht, und man
Vater Rhein und seine Töchter
„Hier habt ihr eine fraiizosischc Grammatik — ich will in meinen alte» Tagen
nicht mehr Französisch lernen."
brächte die Erbauer gleich als
zierendes Ornament mit an den
höchsten Balken — als Sinnbild
des Hochverrats am Gedanken
der Republik. . . .
Es brauchen schließlich nicht
immer arrne Sünder zu sein,
die hängen.
GS GS
Kreislauf
Die gekrönten Könige sind in
Deutschland abgesetzt, die unge-
krönten gedeihen desto besser. Vor
allem Herr Stinnes, der dem-
nächst das Deutsche Reich als sein
Privateigentum erklären wird
und Rußland und Österreich als
seine Kolonien.
Herr Stinnes kauft Kohlen-
gruben, um seine Jndustriewerke
und Handelsschiffe heizen zu
können.
Herr Stinnes holzt ganz Eu-
ropa ab, um seine Zellstoff- und
Papierfabriken zu speisen.
Herr Stinnes kauft sämtliche
bürgerlichen Zeitungen und läßt
sein fabriziertes Papier in end-
losen Rollen durch die Maschinen
laufen, um es mit Stinnesgeist
zu bedrucken.
Auf diese Weise wird wieder
Holz daraus: Bretter vor den
Köpfen der Leser.
Sobald Herr Stinnes ganz
Deutschland vernagelt hat, wer-
den auch die Könige wieder ge-
krönt.
Wenigstens einer: Stinnes I.
In der Moschee zu Nahib lag
(Ein Heiliger begraben.
Die Pilger kamen scharenweis
Mit Opfern und mit Gaben.
Hassan, der weise Ulema,
Hielt Wacht am Sarkophage
Und nebenbei am Opfcrstock
An jedem Wallfahrtstage.
So ward der fromme Hassan reich. —
O Allah, fei gepriesen I
Du hast dich deinem frommen Knecht
Als guter Herr erwiesen I-
Der Diener Hassans, Ali Dschedd,
Bat seinen Herrn bescheiden:
„O Herr, mein Lohn ist zu gering.
Ich muß oft Hunger leiden!"
„Mein Sohn," sprach Hassan, „irdisch Gut
Ist sündiges Begehren.
Der Lohn winkt dir im Paradies,
Hier sollst du ihn entbehren.
Die Welt will betrogen
Denn Demut und Entsagung schützt
Dich vor dem Sündcnfalle." —
Darauf stahl Ali seinem Herrn
Den Esel aus dem Stalle
Und ritt hinaus durchs Wüstenland
Zu grünenden Oasen.
Dort fiel der Esel plötzlich um.
Verendend auf dem Rasen.
Ali begrub das graue Tier
Mit Bügel, Zaum und Zügel
Und setzte ihm verzweiflungsvoll
Aus Steinen einen Hügel.
Dann sprach er schmerzlich ein Gebet
Und hielt das Grab umklammert.
Ein Wandrer kam des Wegs daher
Und frug, warum er jammert.
„Ein Heiliger", sprach Ali ernst,
„Ruht unter diesen Steinen,
Er hat voin Fieber mich geheilt,
Drum muß ich freudig weinen."
Der Wandrer, betend, gab ihm Geld,
Dem Heiligen zum Zeichen.
Ein zweiter, dritter Wandrer kam,
Und jeder tat desgleichen.
Schnell wuchs die neue Wundermär
Und gab dem Volk zu denken.
Die Pilger kamen scharenweis
Mit Opfern und Geschenken.
Bald hatte Ali Geld wie Heu
Und hundert Haremsfrauen.
Er ließ die herrlichste Mosches
Dem Heiligen erbauen. - - -
Hassan verdroß die Konkurrenz,
Denn spärlich floß die Gabe.
Zn wissen, wo das Wunder war.
Griff er zum Wnnderstabe.
„Bist du es, Ali? Grüß dich Gott l"
Rief Hassan mit Erstaunen.
„O sprich, wie heißt der heil'ge Mann,
Von dem die Gläub'gen raunen?"
Und Ali sprach geheimnisvoll:
Hier ruht in diesem Grabe
Dein Esel, Herr, den ich — verzeih! —
Dir einst gestohlen habe!"
„Wie sonderbar!" sprach Hassan drauf.
„Ha, alles ist Theater!
In meinem Heiligtum, mein Freund,
Ruht deines Esels Vater!
Ja ja, die guten Moslems find
Leichtgläubige Naturen!" —
Dann drückten beide sich die Hand,
Wie römische Auguren.
Viktor Kalinowski
Der Galgen
Die deutschnationale Presse
inacht Stimmllng für Strick und
Galgen, für „Härte und rück-
sichtsloses Zugreifen, selbst wenn
dabei mißleitetes deutsches Blut
fließt". Gerichtsverhandlungen
sehen die Aufrührer seelenruhig
entgegen, sagt sie — meint da-
bei aber nicht die Putschisten von
rechts, sondern von links. Und
empfiehlt für diese eben: auf-
knüpfen an Ort und Stelle.
In früheren Zeiten war es
zuweilen schwierig, Leute zu fin-
den, die einen Galgen errichteten.
Das Volk sah sie ähnlich an wie
Scharfrichter und Schinder, setzte
sich nicht mit ihnen an einen Tisch
und ging um sie herum wie um
stinkende Haufen. Da mußte denn
oft das Los entscheiden, wer
zwangsweise zu dieser schimpf-
lichen Tätigkeit verpflichtet wer-
den sollte.
Das wäre heute nicht nötig.
Die hakenkreuzlerischen Junker
und Oberlehrer, Gymnasiasten
und nicht wenig Juristen würden
mit Wonne den Galgen aufrich-
ten, und auch an Henkern wäre
sicher kein Mangel.
Das Volk würde wie früher
um sie herumgehen, und die alte
Schinderverachtung käme viel-
leicht von neuem zu Ehren.
Allerdings: es könnte auch an-
ders kommen. Möglicherweise
genügte manchem die übliche
Galgenarchitektur nicht, und man
Vater Rhein und seine Töchter
„Hier habt ihr eine fraiizosischc Grammatik — ich will in meinen alte» Tagen
nicht mehr Französisch lernen."
brächte die Erbauer gleich als
zierendes Ornament mit an den
höchsten Balken — als Sinnbild
des Hochverrats am Gedanken
der Republik. . . .
Es brauchen schließlich nicht
immer arrne Sünder zu sein,
die hängen.
GS GS
Kreislauf
Die gekrönten Könige sind in
Deutschland abgesetzt, die unge-
krönten gedeihen desto besser. Vor
allem Herr Stinnes, der dem-
nächst das Deutsche Reich als sein
Privateigentum erklären wird
und Rußland und Österreich als
seine Kolonien.
Herr Stinnes kauft Kohlen-
gruben, um seine Jndustriewerke
und Handelsschiffe heizen zu
können.
Herr Stinnes holzt ganz Eu-
ropa ab, um seine Zellstoff- und
Papierfabriken zu speisen.
Herr Stinnes kauft sämtliche
bürgerlichen Zeitungen und läßt
sein fabriziertes Papier in end-
losen Rollen durch die Maschinen
laufen, um es mit Stinnesgeist
zu bedrucken.
Auf diese Weise wird wieder
Holz daraus: Bretter vor den
Köpfen der Leser.
Sobald Herr Stinnes ganz
Deutschland vernagelt hat, wer-
den auch die Könige wieder ge-
krönt.
Wenigstens einer: Stinnes I.