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10603 .

Mitgliedsbuch Nr. 2803

Von Friedrich Wendel

„Sehen Sie hier," sagte der Vorsitzende
unserer Partei-Ortsgruppe und kramte aus
alten Papieren ein arg zerknülltes und beschä-
digtes Heftchen hervor, „sehen Sie, dies alte
Mitgliedsbuch hier, das hat seine besondere
Geschichte!" Er hob den abgerissenen Deckel
ab und las halblaut vor: „Mitgliedsbuch
Nr. 2803, Hermann Wandtke, Gelegenheits-
arbeiter, geboren am
3. Juni 1847, Eintritt
in die Partei 16. Februar
1920, gestorben am 20.

Juli 1921." .

„Mit 73 Jahren noch
der Partei beigetreten?"
fragte einer und rvar
sehr erstaunt.

„Ja. Und doch war
dieser Wandtke mir eins
der liebsten Mitglieder.

Lassen Sie sich erzählen.

Er war geif seines Lebens
ein armes Luder gewe-
sen, der Wandtke. War
ein Einspänner und ging
seine eigenen Wege. Seß-
haft war er nie und
nirgends gewesen, jahr-
zehntelang hatte er ge-
tippelt, sommers und
winters, schließlich lvar
er hier in unserem Ort
gelandet. Das war so um
1910 herum. Ein Papp-
karton mit, na sagen wir
mal Wäsche war alles,
was er bei sich hatte, als
er bei uns auf dem Werk
als Zuhelfer unterkroch.

Verwandte hat der Alte
mir nie genannt. Mür-
risch und einsilbig ging
er seine Wege.

Ich war damals Werk-
meister, wie Sie wissen,
und nahm mich des alten
Sonderlings an. Sprach
mit ihm, es war ein
s chwierigesUmgehen mit
ihm, und versuchte auch,
ihn für die Bewegung zu
interessieren. Jedesmal
aber, wenn ich das Ge-
spräch auf diese Dinge
brachte, grunzte er irgend
etwas Unverständliches
und trollte sich. Von
diesen imseren gelegent-
lichen Gesprächen abge-
sehen, hielt er keinerlei
Verbindung mit der Um-
welt, und nur Fips, sein Hund, war die einzige
Seele, zu der er Zutrauen hatte.

Manche von Ihnen ivcrden Fips noch ge-
kannt haben. Er war ein Köter, der alles an-
ders als schön war, eine undefinierbare Rasse,
ruppig, struppig, aber ein gutes Herz hat er
gehabt, der Fips. Mann und Hund schienen
sich gefunden zu haben, einer kam ohne den
andern nicht mehr aus. Stundenlang konnte
sich der alte Stromer mit seinem Hund unter-
halten. Mit schiefem Kopf und aufgespitzten
Ohren saß der Hund dann vor ihm und hörte
aufmerksam zu, was sein Herr ihm erzählte.
Wenn Wandtke, was ihm manchmal passierte,
das heulende Elend kriegte — warum, das hat
man nie herausfinden können —, dann win-

selte Fips mit, und wurde Wandtke ungemüt-
lich und schimpfte auf dies und das, dann
schimpfte auch Fips bläffend mit.

Sieben oder acht Jahre war Wandtke bei
uns tätig, dann ging's nicht mehr. Er war
verbraucht. Man schob eine Altersrente für den
alten Knaben und setzte ihn mit seinem Hund
in den Winkel. Der Krieg kam, das Friedens-
elend kam, schlechte Zeit kam für die Alters-
rentner. Wandtke darbte sehr. Die Mahlzeiten
wurden immer kleiner und seltener, auch für

Fips. Und das war für Wandtke ein großer
Schmerz. Er sparte sich's vom Mund ab, was
er dem Hund gab. Einmal ist er aus der Volks-
küche rausgeschmissen worden, als er seinem
Hund Bissen zuschob. Die Leute sagten, es
sei eine Schande, Hundetölen durchzufüttern,
wenn die Menschen selber nichts zu fressen
hätten. Es war schlimm, recht schlimm mit den
beiden. Alt und stuckrig krochen sie beide herum.
Im Februar 1920 nun ivar es, da klopft es
eines Abends bei mir, und als ich aufmache,
steht Wandtke vor mir. Ohne Hund. Er selber
ganz verstört und wirr, von einem Wesen, als
sei er nicht mehr richtig.

„Na, das ist hübsch von Ihnen, daß Sie
mich mal besuchen," sage ich, um was zu sagen,

„nehmen Sie Platz, Wandtke, meine Frau ivird
uns einen schönen Kaffee kochen!"

„Nee," sagt er, „behalten Se man Ihren
Kaffee. Sagen Se mal, haben Se «ich 'ne alte
Kiste? Ich will Fipsen bejraben."

„Oo — der Hund ist tot?"

„Js dot. Ja. Ich hab'n dotgeschlagen. Hab'n
selber dotgeschlagen."

Er sah mich starr an, und dann brach es
aus ihm heraus : „Jawoll. Ich Hab' das Elend
nich mehr mit ansehen können! Ich Hab' nischt
mehr zu fressen jehabt
for meinen ollen juten
Hund! Altersrente?
Jibt's bloß for Men-
schen, und außerdem
langt se nich. Da is es
besser Schluß jemacht!
O Jott, Meister, Sie
sind doch Sozialdemo-
krat — nu sagen Se mal,
is das 'ne Jesellschafts-
ordnung, die wo 'n Hund
verhungern läßt, vor
ineine sichtlichen Augen
meinen Hund vorHunger
krepieren läßt?"

Er flog am ganzen
Leibe. Dann:

„Meister, mir liegt wat
schwer uff de Seele, —
sagen Se — Ihre Par-
tei, is se dafor, daß ooch
de Hunde satt zu fressen
kriegen?"

Mir ivar, weiß Gott,
Genossen, nicht komisch
zumut. Jetzt lacht man
vielleicht darüber, da-
mals aber Hab' ich nicht
gelacht. Wie der alte
Stromer so vor mir
stand, im tiefsten erregt,
angstvoll die erlösende
Antwort erwartend, die
Antwort, daß wir auch
den Hunden den Freß-
naps füllen wollen, eine
Antwort, die seinem al-
ten, einsamen Herzen,
das jetzt bar aller Wärme
war, Trost geben sollte,
— da war mir, als packte
mich was hier ganz tief
imJnnern. Und ich sagte:
„Ja, Wandtke, auch
dafür kämpft unsere
Partei!"

„Denn nehmt mich
uff, Jenossen," sagte er,
„denn nehmt mich uff!
Es hat lange jedauert,
bis ich zu euch kam, was?
Aber seht 'r, das is ein
sehr, sehr ernster Schritt, den man machen dut,
wenn man in die Partei jeht! Aber jetzt will
ich rin, und ihr sollt noch Freude erleben am
ollen Hermann Wandtke!"

Der Vorsitzende nahm das Mitglicdsbüch-
lein in die Hand und strich über seine zer-
knitterten Blätter. „Nun, mit der Freude war
das so 'ne Sache. Ich brauche euch das nicht
erst näher auseinanderzusetzen. Aber ich weiß
nicht, — er war mir einer der Liebsten .. ."

Manche Leute schimpfen, weil die Reichs-
druckerei soviel Banknoten druckt. Das ist un-
recht. Wir verdanken unser Papiergeld dem
„Druck" der Entente. i>-

Volksdemonstrationen

und jetzt.
 
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