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10651

❖ 1848 — 1918 ❖

In der Geschichte des zivilisierten Europäer-
tums zwischen 1848 und 1918 spielt das hier
bildlich veranschaulichte politische
Moment die entscheidende Rolle.
Der geneigte Betrachter bemerkte
eine eigentümliche Ähnlichkeit mit
der Schlüsselsorm. In der Tat
.wird er sehen, daß, ob es nun
in seinen verschiedenen Teilen in
einer Hand vereinigt oder aber
in mehrere Hände gelegt ward,
immer als Ausdruck wirtschaftsverfassungs-
rechtlicher Zustände erscheint und so den
Schlüssel zum Verständnis jeweiliger politischer
Situation darstellt.

Ludwig Philipp, König der Franzosen, machte
zwischen 1830 und 1848 so ungenierten Gebrauch
von ihm, daß das Volk von Paris ihn im Fe-
bruar 1848 respektwidrig behandelte. Das In-
strument der Herrschgewalt kam ihm bei dieser
Gelegenheit abhanden.

Das arbeitende Volk von Paris hatte kein
Interesse an ihm.

Da nahm das honnette Bürgertum es auf,
zerlegte es, verteilte es unter sich, benutzte cs
mit Geschick und freute sich sehr.

Der Vorfall erregte in ganz Europa Auf-
sehen und auch der deutsche Liberale erwärmte
sich für diese Sorte Demokratie.

Doch trat er mit Maß auf. Er begriff, daß
in der deutschen Eigenart, statt des sonst üb-
lichen einen Monarchen mehrere Dutzend Für-
sten an bewußtem Instrument zu interessieren,
der Keim zu einer Lösung liege, die den be-
stehenden Polizeivorschriften nicht zuwiderlaufe.
Man einigte sich mit den Fürsten auf eine Ver-
fassung der demokratisch eingeschränkten, der
sogenannten konstitutionellen Monarchie. Wir
geben den historischen Akt im Bilde wieder.

Lange Zeit herrschten so im europäischen
Wirtschaftsleben wohlgeordnete und gesicherte
Zustände.

Im Jahre 1914 jedoch passierte ein Malheur.
Das Tempo des allgemeinen kulturellen und
politischen Fortschritts nahm Explosivgeschwin-
digkeit an.

Am 9. November 1918, wie in aller Erinne-
rung steht, gab die deutsche Arbeiterschaft ihrer
Ansicht über Sinn und Hergang des gewal
tigen geschichtlichen Ereignisses des Weltkriegs
unmißverständlichen Ausdruck.

Dabei kamen nun wieder einmal die Be-
standteile der bürgerlichen Ordnung sozusagen
abhanden. Aber das demokratische Bürgertum
erbarmte sich ihrer und las sie auf.

Die Provision

AnderStraßenecke lag ein Mann - Schwäche-
anfall, Unterernährung.

Ein Haufe Menschen stand um den Ariusten
herum und stellte soziale Betrachtungen an.

Da durchbrach mit energischen Schritten ein
elegant gekleideter Herr die Menge, zog den
Zylinder und rief mit vernehmbarer Stimme:
„Bloßes Bedauern nutzt gar nichts, meine Herr-
schaften, hier muß etwas getan werden! Ich
erlaube mir, eine Sammlung zu veranstalten!"

Die Sammlung ergab etwa 600 Mark.

Davon gab der elegante Herr dem Unglück-
lichen 100 Mark, das übrige steckte er mit An-
mut und Gemütsruhe in die eigene Mantel-
tasche.

„Na, aber hören Sie mal," sing einer an.

„Was denn, wie denn," sagte der Herr, „ich
bin Stinnes-Direktor. Wenn der Ehef erführe,
daß ich solche Aktionen ohne Provision vor-
nehme, könnt' er sich verletzt fühlen!" w.

Notleidende

In die Steuerkommission eines Landkreises,
in der bisher nur größere Landwirte gewesen
waren, kamen auch einige arme Angestellte
hinein. Als die Einkominensteuer eines Land-
wirts verlesen wurde, der über bedeutenden
Grundbesitz verfügte, rief einer der Angestellten:
„Da zahle ich ja viel mehr Steuern!"

„Sie sehen, meine Herren," meinte der Vor-
sitzende, „wie notleidend die Landwirtschaft ist!"

K. M.

November

von Ernst preczang

Grau starrt die Welt.

Rovembernebel brüten vor den Scheiben.

Die weißen Schwaden treiben
3n schweren Klumpen langsam übers Feld.

Sie Straße dampft.

Ein kahler J\ft Zerkrampft
Das letzte Blatt ln sterbedunklem Not.
Gespenstisch ragen Türme, Essen, Wände,
vom Himmel greisen finstre Wolkcnhände
Um feuchte Mauern.

Zurchtsam weint die Not.

lön dumpfen Stuben tropft verbiss'ne Klage.

Das Licht ist tot.

Die Sonne ward zur Sage.

Der Dunst hält die Zpklopenfanst geballt.

Blind auf dem Meere schwanken unsre Schiffe,
von gierigen Tatzen grimmdurchbebt umkrallt,
flus schwarzer Tiefe grinsen weiße Riffe....

Schwer wälzt üerDampfstch durch öen vünenwalü.
Die Krähe glotzt vom nassen Stamm.

Der Zuchs schleicht lautlos durch den Busch.

Tin trüber Riesenschleier wallt

Und dunstet, der in Moor und Schlamm

Das flatternde Gewebe wusch....

Nooembernebel brüten. Dumpf und hohl
Und stumm die Erde unter deinem Schritt.

Die grauen Zahnen wehn von Pol zu Pol.

Tin Lied, ein leises, wandert mit.

Geheimnisvoll und wunderstill,

Wenn dich der Tag erwürgen will,
harft es in diese Zinsternis.

Tin goldner Tropfen, einsam und verirrt,

Ziel blitzend durch des Schleiers Riß
Und klingt — und klingt.

Tr klingt au» trübverhangnen Weiten
von Herrlichkeiten,

Die einst dein fluge sehen wird:

Die Sonne fingt.
 
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