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10663

Der Schwarm der Trauernden belagerte un-
sere Stuben. Die Mutter stand mit verweinten
Augen vom Tisch auf, schluchzte und floh in
die Kammer, wo der Vater gestorben war. Sie
ging an sein Bett und streichelte es. Als sie
wieder an den Tisch kam, erzählte sie mit ver-
äscherter Stimme, in der Sterbenacht habe der
Hahn dreimal laut gekräht, auch die Uhr sei
stehen geblieben.

Ja, der Tod zeigt sich an. Hundert ähn-
liche Geschichten gingen krumm und verbuckelt
durch die Stube.

Wir hörten schaudernd auf die dunklen Ge-
schichten und ängstigten uns. Als die Verwandt-
schaft auseinanderging, sagte
eine alte Tante: ,Weißt du,

Schwester, ich will dir nicht
wehe tun, aber du kannst eigent-
lich ftoh sein, daß Vater gestor-
ben ist, er ist zuletzt doch nur
ein unnützer Esser gewesen.' Die
Mutter schluchzte: .Aber Schwe-
ster!' und heulte laut auf."

Jonas, der die ganze Zeit in
die Wellenberge gestarrt hatte,
sagte plötzlich und laut: „Gute
Nacht!" und ging in? Zwischen-
deck. Wir sahen uns an, wurden
verstimmt und verlegen: denn
auf einer Meerfahrt sollte man
von anderen Dingen reden als
von grauer, drückender Kindheit
und sterbenden Vätern. Der
Sturm hatte auch nachgelassen,
und durch die treibenden Wol-
ken schienen die Sterne. Der
Morgen war nicht mehr fern,
es schimmerte schon der östliche
Himmel.

Schieber- undBiedermanns-
Katechismus

Reu herau«ge,eben nach Ernst Moritz
Arndt von Friedrich Wendel

Von den vergänglichen und

unvergänglichen Dingen
dieser Welt

Hänge dein Herz nicht an die
vergängliche Mark. Widerstehe
den Abscheulichen, die sie sta-
bilisieren ivollen, und handle
recht und in Dollars. Wider-
stehe auch der Devisenordnung
vom 12. Oktober 1922, denn siehe
es ist -alles vergänglich und es
ist alles ganz eitel, spricht der
Prediger Salomo. Dennoch soll
dein Herz sein fröhlich sein, denn
du kannst den Dollar treiben,
auch ohne die Prüfungsstellen
zu belästigen. Vergänglich ist die
Mark, unvergänglich nur der Rebbach. Ver-
gänglich ist die Regierung, unvergänglich nur
ihre Nachsicht gegen dich und drin Treiben.
Fürchte dich nicht, zehn Prozent Zinsen für
den Monat zu nehmen und zu geben, denn
unvergänglich gleich dem Fels im Meere blei-
bet die freie Wirtschaft, die dir alles wieder
einbringt.

Vom Volk

Und es sind elende Kerle aufgestanden in
diesen Tagen, die sprechen in der Mchtigkeit
ihrer Herzen: Volk hin, Volk her, bilden wir
den großen Menschenbund des Erdenrunds,
der in Frieden von seiner Hände Arbeit lebe.

Diese aber sind lvie die dummen Tiere, und
was sie sprechen, sei dir ein eitles Geschwätz.

Denn was könntest du auspowern, so kein
Volk wäre??

So kein Volk wäre, das auf des Lebens
Güter verzichtete, wie könnte die Tafel deines
Hauses bestellt sein mit leckeren Speisen und
Schnäpsen aus Paris? Ohne Fundanirnt kein
Bau, ohne Volk kein Geschäft und kein Reb-
bach und kein Kapital.

Und wie, wenn keine Völker, keine Grenzen
und fremde Länder und Banken wären, wo-
hin solltest du dein Kapital verschieben, auf
daß du es retten könntest in der Stunde der
Gefahr? Weise ist es eingerichtet, daß Völker
sind. So zwei Völker einen Krieg machen, wird

Der Gesetzgeber

Der ueue Mose« führt die Völker zwar nicht ins Gelobte Land,
aber desto sicherer in die Wüste.

das eine siegen und das andere unterliegen;
so du nun dem unterlegenen angehörst, könnte
dir passieren, daß du die Not und die Last der
Niederlage helfen müßtest tragen. Siehe, da
hältst du dich zum anderen Volke und machst
einen privaten Wiederaufbauvertrag mit ihm,
der dir dann wenigstens sechs Prozent Pro-
vision einbringt.

Vom Friedensvertrag von Versailles

So du ein Industrieller bist, sollst du mit
starker Stimme wider den Friedensvertrag von
Versailles angehen und sollst alles tun, ihn
dir vom Halse zu halten.

Und so du ein Ackerbauer bist, sollst du mit
noch stärkerer Stimme wider den Friedens-
vertrag angehen und sollst zur Ausrottung

deiner Mitbürger durch gepfefferte Lebensmit-
telpreise beitragen.

Von teutscher Geistigkeit

Du sollst die teutschen Dichter und Künstler
verhungern lassen, auf daß deine Kabaretts
und Kinos blühen und gedeihen. Sie werden
dann kommen und schreien: Weh«, wodurch
haben wir verdient, daß man uns in Teutsch-
land schlimmer behandelt, denn die Aussätzigen
und Schorfgrindigen behandelt werden auf den
Straßen Samarias und Galiläas? Bann sollst
du sprechen: „Ei, weshalb habt ihr keine Ge-
sänge gedichtet voll der prickelnde» Zoten, mir
den Wein zu würzen und die
köstliche Speise, daß mich ein
Rülpsen erfreue; weshalb habt
ihr nicht verherrlicht mein christ-
bürgerliches Haus und seine
Huren, meines gefüllten Arn-
heims Poesie nicht zu gedenken?"

Von deutscher Wirtschaft

Halte trocken das Pulver der
Munition, die du Anno 19 im
Keller deines Hauses vergrubst,
es kommt der Tag, wo das
deutsche Volk ausstehen wird,
sozialistisch zu wirtschaften.

Es ist der Sozialismus des
Satans erschröcklichster Einfall
er könnte alle satt machen!
Es ist der Sozialismus der
Schrecken aller Schrecken — er
könnte Frieden den Völkern
bringen!

Er ist die Vernichtung — er
könnte die Rettung Deutschlands
bedeuten!

Wehre dich mit Zähnen und
Klauen wider die, die da satt
gemacht sein wollen! Überziehe
mit Krieg, die da den Frieden
wollen! Hasse den Sozialisinus,
denn er will dir Rettung Deutsch-
lands! ___

Bei den Preisen I

Gattin: „Den letztenKognak
rest willst du trinken?"

Gatte: „Ja! Ich muß doch
einige notwendige Einkäufe ma-
chen, und dazu will ich niir Mut
trinken." ___

Armes Gretchen

Unsere Frau Nachbarin zankte
heftig ihr Töchterchen Gretchen
aus: „Hundertmal haß' ich dir
schon gesagt, du sollst das Naschen
kaffen!"

Ich kam hinzu: „Aber, Frau Müller, Zucker
nährt doch schließlich. . . ."

„Was Zucker," sagte sie, „Brot hat sie sich
genommen!"

Lunger oder Maffenhysterie?

Wiener Blätter berichteten, daß viel« Arbeiterinnen
von Nervenkrämyfen befallen wurden, die stch nur auü
»Maffenhysterie- erklären laffen.

Stimmt nicht! Hysterie haben doch Nlir die
feinen Dämchen mit ihren „sensiblen" Nerv-
chen, Hunger hat nur der notleidende Mittel-
stand.

Die Weaner Madln werden stch halt ein
bissel überfüttert haben — bei den hohen Löh-
nen kein Wunder!
 
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