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Zeichnung von Litt R6thi


Seltsame Christnacht

Eine Weihnachtsgeschichte von Ernst Losertchter

Schnee fiel als weißer, weicher Brief vom Limmel. In die
schwarze, dichte Nacht hinein.

Alles Laute lief auf schweigsamen Gummisohlen durch die
Straßen und nur der Droschkengäule Geklingel sang durch die
wirbelnden Flocken.

Der Portier der Psychiatrischen Klinik lag mit dem einen
Ohr auf seinem Bizeps und breitete über einem Stoß alter
Krankengeschichten silberhellen Christbaumschmuck aus. lieber
dem Aktenbündel eines Epileptikers kugelten goldbronzierte
Nüsse und auf dem Gewichtsdiagramm eines Melancholischen
flutete leuchtendes Engelhaar.

Aus dem elektrischen Wecker fielen in dünnen Tropfen die
Sekunden und müde klappten dann und wann die Amstecker des
Haustelefons hinein. Änd da der Pförtner eben die regen-
bogenfarbige Christbaumspitze aus ihrem flüsternden Seiden-
Papier hob — läutete die Nachtglocke des Einfahrttores und
in die Signalbirne hüpfte ein veilchenblauer Schein . . .

Draußen sang es. Das war ihm nichts Sonderbares. Ge-
wöhnlich war es ein Singen, Lallen und Kreischen oder Fluchen,
mit dem die Gäste dieses Hauses Einzug hielten. Alles, was
diese Seelen da aus sich heraustönen ließen, war gewöhnlich
so weit den gesund umgrenzten Sphären des Anstaltspersonals
entlegen, so ohne sinnvolle Berührung mit ihrem festverankerten
Alltag, daß der Kranken Schreie und Gebärden, ohne Ver-
wandtes zu treffen, sich in ftemden Regionen verloren.

Die verzerrten Sehnsüchte gingen, mit einer Diagnose ver-
sehen, an ihrem Aug und Ohr vorbei — ohne Widerhall. And
man gewöhnte sich auch an das Unglaubliche und ließ es in
einem Bogen ohne Erleben um die gesunde Seele kreisen.

Aber was jetzt da draußen sang — das war nicht dies All-
tägliches Es war nicht abgerückt von den Regungen der Por-
tierseele und von den Seelen aller.

Denn die Stimme sang von dem, daß allen eine große Freude
nahe sei, daß Gottes Sohn auf dem Wege zur Erde sei — und
daß des Friedens kein Ende sein würde. . .

And da der Pförtner die Türe nach innen zog, kam ihm
geflockter Schnee, dünner Wind und eine segnende Land ent-
gegen. Aus jungftäulichem Mund tönte es lippenwarm:
„La-aßt uns das Kindlein wie-iegen —

Das Herz zum Kripplein bie-iegen .. Eia Popeia .."

And es war mit einem Mal, als wäre ein frierender Weih-
nachtsengel vor das Tor geflogen gekommen. Aber neben der
singenden Gestalt stand ein schnaufender Schutzmann mit über-
schnellem Vollbart, der mit seiner stacheligen Lelmspitze alle
himmlische Botschaft wie ein Blitzableiter von ihr abzog.

Auf seinem abendlichen Dienstgang war ihm aus einem
Lausgang der Kutscher eines Brot^hrwerkes entgegengestürzt:
„Wachtmeister, bei mir im Stall liegt ein Frauenzimmer auf
dem Stroh zwischen zwei brennenden Kerzenlichtern... schon
zweimal kam sie auf unsere Küchentürschwelle und kündigte die
Geburt des Menschensohnes an, den sie gebären wird." Er lief
mit dem Kutscher in den Stall zurück und — da stand die
Futterkrippe schon in Hellen Flammen. Er löschte das Feuer
mit seinem Mantel ... während das Frauenzimmer auf dem
Fensterbrett stand und mit geweiteten Armen in den Los
hinaus sang: „Ich verkündige euch eine große Freude . . . !"

Da nahm der Schutzmann das Weib und brachte es hierher.
And der Pförtner der Klinik führte die Singende zum Assistenz-
arzt, der heute den Nachtdienst hatte.

In dem engwandigen Sprechzimmer roch es nach gebratenen
Aepfeln, angebranntem Tannengrün und ttopfendem Wachs.
Der Doktor klopfte eben mit dem Perkussionshammer einige
handeln auf, als die Beiden eintraten.

^ ... Ich verkündige euch große Freude! Leute Nacht...!"

„Wie heißen Sie, mein Kind?"

„Maria."

„And wer sind Sie?"

„Ich bin die Magd des Lerrn! Leute Nacht . . .!"

„Die Magd des Lerrn ...!" unterbrach er sie verständnisvoll
und zog ein Aufnahmeformular aus dem Schubfach.

Dann suchte er Pupillen, Schleimhaut und Sehnen nach
Reflexen ab und ftagte noch dies und das, indessen sie schon
wieder zu summen begann:

„La-aßt uns das Kindlein wie-iegen . . ."

„Ja, wo haben Sie denn das Kindlein . . ?"

,F>ier liegts doch, hier auf meinem Arm . .! Hier wiege ich
das goldene Jesulein . . . Eia Popeia . .!"

,^lnd wie lange schon wissen Sie, meine Maria, davon?"

„Zuerst, da klopfte es an die Türe, mit Ländchen und mit
Füßchen. Es wisperte vor dem Fenster, es lachte durch die
Wand, es krabbelte über der Decke — an dem Fensterglas
zeigte es seine strohgelben Locken . . ."

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