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Undank ist der Welt Lohn

Wand fiel ihm wieder einmal das Bild von Lenin und sein
eigenes in die Augen. Der einzige freie Platz, den er fand,
war gerade unter seinem eigenen Bild. In der Speisewirt-
seh aft aßen eine große Anzahl von Sowjetangestellten zu
Mittag. An einem der Tische ging es besonders lebhaft zu.
Dort hatte man Karl Marx erkannt und lud ihn bald ein,
an der Tischrunde Platz zu nehmen. Man begrüßte den
berühmten Gast freudig und wunderte sich darüber, daß man
nichts von einem festlichen Empfang gehört hatte. . Aber die
Llnterhaltung ging bald ans ein anderes Thema über, auf
die Frage des Kampfes gegen die..Abweichungen" von der
wahren marxistisch-leninistischen „Linie". Ein Papier wurde
zur Llnterschrift herumgereicht
und auch Karl Marx vorge-
legt. Die Anterzeichner ver-
pflichteten sieh darin, allen
früheren und zukünftigen
„Abweichungen" zu entsagen.

Auch Karl Marx sollte unter-
zeichnen. Er sträubte sich da-
gegen und verstand nicht,
welcher Art Abweichungen
man ihn verdächtigen könne.

„Tut nichts, Genoffe Marx."
sagte einer ausderTisehrunde.

„unterzeichnen Sie nur. Bester
einmal zu viel als einmal zu
wenig! Ganz gleich, welche
Abweichungen, es ist bester.

Sie entsagen allen!"

Karl Marx hatte sich schon
überinanches wundern müsten,
und so unterschrieb er auch
hier unter Kopfschütteln.

Am Abend ging er in sein
Dotel. Von hieraus versuchte
er noch einmal Stalin, und
zwar telefonisch, zu erreichen.

Er hatte Glück, es gelang
ihm. mit Stalin persönlich
zu sprechen. Aber hier wieder
die gleiche Antwort: „Be-
dauere sehr. Genoste Marx.

Zeichnungen a on Willi B o d e

Anliegen und Fragen beantworte ich nur. wenn sie schriftlich
eingereicht werden! — Aber vielleicht wenden (sie sich einmal
an das Zentralkomitee der RusfischenKommunistischen Partei!"
Das tat denn auch am nächsten Morgen Karl Marx. Dort
wurde er wesentlich freundlicher empfangen. Aber auf
seine Mitteilung, daß er zu Stundienzwecken nach Rußland
gekommen sei. achtete man nicht. Man verschickte ihn in An-
betracht seiner großen Verdienste uin die Arbeiterbewegung
zur „Erholung" nach dem Kaukasus. Schön war es dorr,
das läßt sich nicht leugnen. Mildes Klima, eine herrliche
Landschaft — aber Studien ließen sieh dort kaum treiben.
Eines Tages lag Karl Marx dort auf einer blühenden Wiese

und ließ sich von der Sonne
beseheinen. Da kameinSchaf-
hirt mit einer großen Schaf-
herde des Weges. Er sang
auf eine russische Volks-
melodie ein merkwürdiges
Lied. Marx, der in den
letzten Jahren seines Lebens
noch etivas.Russisch gelernt
hatte, hörte zu. Er verstand
aber nur denRefrain: „Freut
Euch, seid glücklich meine
Brüder, wir leben in einem
großen Lande, wo wir den
Sozialismus aufbauen, so
wie es uns Karl Marx einst
gelehrt hat!" And dieser
Refrain kehrte immer wieder.
Karl Marx hörte das, sprang
auf und fragte den Schäfer
aufgeregt, was er da für ein
Lied gesungen habe. Finster
runzelte der Schafhirt die
Brauen und sagte: „Was
geht's Dich an! Äab' ich für
Dich gesungen? Für die
Schafe Hab' ich gesungen!"
Sprach's, drehte sich um und
ging weiter.

*

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