Abstecher ins Riesengebirge machen, weiter reicht es
beim besten Willen nicht.“
„Ja“, hat Emil gesagt, „und ich komme jeden Morgen
ohne Frühstück ins Büro —“ Aber er konnte nicht
weiterreden. „Sehr vernünftig, Zierfischel, alter
Sangesbruder (Emil fühlte sich gehoben), sehr ver-
nünftig! Auch ich esse nicht mehr so viel wie einst.
Wer viel ißt, stirbt viel!“ Dabei knöpfte er liebevoll
Emil seine alte Jacke zu, ganz behutsam wie ein
treusorgender Vater.
Emil zitterte. „Sie sind ein so guter Chef zu mir,
Herr Reibeisen. Aber ich muß — mehr Geld ver-
dienen — fünf Kinder zu Hause —• ich esse schon
abends kaum mehr — es langt nicht — ich —“
„Aber mein lieber, junger Freund, wer wird denn
verzagen, nur vertraut, frisch gewagt ist halb gewonnen,
nur nicht den Mut sinken lassen! Und — was soll
ich erst sagen ?“ Hier machte er eine raffinierte
Kunstpause, daß Emil vor Spannung und banger
Erwartung den Atem solange anhielt, bis er sich
verschluckte.
„Sehen Sie“, sagte der Chef, nachdem sich Emil
wieder erholt hatte, mit trauriger Stimme und beinahe
nassen Wimpern, „auch mir geht es schlecht. Ich setze
jeden Monat Tausende zu, jawohl. Tausende!
Aber aufgeben, nein! Aufgeben darf nur ein Feigling!
Ein deutscher Kaufmann hält durch! Ich weiß, die
Lebens Verhältnisse, die Teuerung, die Frauen, die Re-
gierung — es ist bald nicht mehr zum aushalten!
Aber wer ist an allem Elend schuld?“ Er zündete sich
gelassen eine frische Zigarre an, nachdem er vorher
beim Sprechen mundgerecht die Spitze abgebissen und
auf den Teppich geblasen hatte. „Mein bester
Zierfischel, schuldig sind nur die Roten, die Sozial-
demokraten, diese Verderber Deutschlands!“
Emil nickte, das wußte er, das stand fest, der Chef
hatte ihm das gleiche schon oft gesagt. Auch in der
Zeitung vom DHV., wo er schon so lange drin ist,
wie er gemerkt hat, daß der Sekretär von diesem
Verein der Freund vom Chef ist — also auch da
hatte er es gelesen. Der Chef sagte: „Nun, Sie sind
ein kluger Mensch, Sie wissen das ja ebensogut wie
ich. Sie sind mein intelligentester Angestellter (Emil
schwoll vor Stolz), jedenfalls, Sie verstehen mich!
Auch ich . . auch bei mir geht das Geschäft schlecht.
Ich möchte Ihnen nicht meine Sorgen wünschen
(Emil nickte dankbar zustimmend), und — — was habe
i ch vom Leben?“
Er setzte sich in den dicken Klubsessel und musterte
Emil von unten. Sie haben doch wenigstens jeden
Ersten Ihr Geld. Haben Sie aber wie ich Rechnungen
zu bezahlen? (Emil verneinte.) — Haben Sie vielleicht
Angestellte zu bezahlen? (Emil verneinte.) — Haben
Sie etwa auch einen solchen Haufen Gläubiger zu
befriedigen? (hier wies er auf einen dicken Stoß
Papiere, und Emil mußte abermals verneinen.) — Na
sehen Sie! Seien Sie Ihrem Schicksal nicht undankbar.
Seien Sie zufrieden. Ihnen geht es besser als mir!
Ich bringe ständig Opfer, und Sie — ? Meinetwegen
schimpfen Sie auf die Regierung, schimpfen Sie auf
die Sozialdemokraten. Die sind schuld, wenn Ihnen
das Leben nicht behagt. Auch mir behagt das meine
nicht. Sie wissen gar nicht, wie traurig es mir zu-
mute ist.“
Emil war ganz zerknirscht. Er nickte automatisch mit
dem Kopf, antworten konnte er nicht. Es war ihm
zumute, als stände er in einem Trauerhause und
müßte Beileid wünschen. Aber er fand keine Worte
Zeichnungen von
Erich Glas
Ursache
1908
1931
6
beim besten Willen nicht.“
„Ja“, hat Emil gesagt, „und ich komme jeden Morgen
ohne Frühstück ins Büro —“ Aber er konnte nicht
weiterreden. „Sehr vernünftig, Zierfischel, alter
Sangesbruder (Emil fühlte sich gehoben), sehr ver-
nünftig! Auch ich esse nicht mehr so viel wie einst.
Wer viel ißt, stirbt viel!“ Dabei knöpfte er liebevoll
Emil seine alte Jacke zu, ganz behutsam wie ein
treusorgender Vater.
Emil zitterte. „Sie sind ein so guter Chef zu mir,
Herr Reibeisen. Aber ich muß — mehr Geld ver-
dienen — fünf Kinder zu Hause —• ich esse schon
abends kaum mehr — es langt nicht — ich —“
„Aber mein lieber, junger Freund, wer wird denn
verzagen, nur vertraut, frisch gewagt ist halb gewonnen,
nur nicht den Mut sinken lassen! Und — was soll
ich erst sagen ?“ Hier machte er eine raffinierte
Kunstpause, daß Emil vor Spannung und banger
Erwartung den Atem solange anhielt, bis er sich
verschluckte.
„Sehen Sie“, sagte der Chef, nachdem sich Emil
wieder erholt hatte, mit trauriger Stimme und beinahe
nassen Wimpern, „auch mir geht es schlecht. Ich setze
jeden Monat Tausende zu, jawohl. Tausende!
Aber aufgeben, nein! Aufgeben darf nur ein Feigling!
Ein deutscher Kaufmann hält durch! Ich weiß, die
Lebens Verhältnisse, die Teuerung, die Frauen, die Re-
gierung — es ist bald nicht mehr zum aushalten!
Aber wer ist an allem Elend schuld?“ Er zündete sich
gelassen eine frische Zigarre an, nachdem er vorher
beim Sprechen mundgerecht die Spitze abgebissen und
auf den Teppich geblasen hatte. „Mein bester
Zierfischel, schuldig sind nur die Roten, die Sozial-
demokraten, diese Verderber Deutschlands!“
Emil nickte, das wußte er, das stand fest, der Chef
hatte ihm das gleiche schon oft gesagt. Auch in der
Zeitung vom DHV., wo er schon so lange drin ist,
wie er gemerkt hat, daß der Sekretär von diesem
Verein der Freund vom Chef ist — also auch da
hatte er es gelesen. Der Chef sagte: „Nun, Sie sind
ein kluger Mensch, Sie wissen das ja ebensogut wie
ich. Sie sind mein intelligentester Angestellter (Emil
schwoll vor Stolz), jedenfalls, Sie verstehen mich!
Auch ich . . auch bei mir geht das Geschäft schlecht.
Ich möchte Ihnen nicht meine Sorgen wünschen
(Emil nickte dankbar zustimmend), und — — was habe
i ch vom Leben?“
Er setzte sich in den dicken Klubsessel und musterte
Emil von unten. Sie haben doch wenigstens jeden
Ersten Ihr Geld. Haben Sie aber wie ich Rechnungen
zu bezahlen? (Emil verneinte.) — Haben Sie vielleicht
Angestellte zu bezahlen? (Emil verneinte.) — Haben
Sie etwa auch einen solchen Haufen Gläubiger zu
befriedigen? (hier wies er auf einen dicken Stoß
Papiere, und Emil mußte abermals verneinen.) — Na
sehen Sie! Seien Sie Ihrem Schicksal nicht undankbar.
Seien Sie zufrieden. Ihnen geht es besser als mir!
Ich bringe ständig Opfer, und Sie — ? Meinetwegen
schimpfen Sie auf die Regierung, schimpfen Sie auf
die Sozialdemokraten. Die sind schuld, wenn Ihnen
das Leben nicht behagt. Auch mir behagt das meine
nicht. Sie wissen gar nicht, wie traurig es mir zu-
mute ist.“
Emil war ganz zerknirscht. Er nickte automatisch mit
dem Kopf, antworten konnte er nicht. Es war ihm
zumute, als stände er in einem Trauerhause und
müßte Beileid wünschen. Aber er fand keine Worte
Zeichnungen von
Erich Glas
Ursache
1908
1931
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