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Zcidinung von Stephan Szigethy

„Mutti, warum hat
Vati kein Haar
mehr auf dem
Kopf?“

„Weil er ein sehr
kluger Mann ist
und schrecklich
viel denkt!“

„Und weshalb
hast du so viele
Haare, Mutti?
,.Geh’ und mach’
deine Schulauf-
gaben fertig . . !“

die Station Bethlehem, fuhren über Weihnachten
hinaus und am Wunder vorbei.

Der weizenblonde Engel öffnete beim' Aussteigen
seine Pakete und verteilte Heu und Stroh.

Etliche warfen es als „Blödsinn“ sogleich in den
Schnee. Die aber dieses Zeichen von Handwerks-
burschenarmut daheim ins Gezweig ihrer Neunzig-
pfennigbäumchen bängten, erlebten silberne und
goldene Ströme und zogen sie wie Most in
Flaschen ab.

Die Agentenfrau stampfte wie über Wassern durch
den Schnee. Da zupfte sie etwas am Aermel. Der
weizenblonde Engel hüpfte neben ihr her wie ein
weißer Pudel an der Leine.

„Magst mitgehen . . ? Da wird der Adolf Augen
machen . . !“

Der Engel flatterte wie ein Ventilator.

„Friert’s dich an die Flügel . . ?“ fragte sie und
sah, daß die federweißen Schwingen zum Aushängen
eingerichtet waren — und hob sie wie Winter-
fenster aus den Angeln, steckte sie unter den
Mantel, und mit der Alltagsbemerkung: „ . . . jetzt
brauchst du sie ja doch nicht . . . jetzt wirst ja doch
nicht gleich fortfliegen . . ?“ schritten sie wie auf
Gummiabsätzen an den Wänden der Mietskasernen
hin. —

Adolf, der Versicherungsagent, biß in der Wohn-
küche einem Zündholz nach dem anderen den roten
Kopf ab, steckte die Hölzer in die Aepfel ein und
band die Früchte an den Zündholzstielen in die
Tannenzweige des schieigewachsenen Christbaumes.
Als er leise zwei paar Füße gegen die Türe an-
schleichen hörte, holte er sofort die Versicherungs-
policen aus der Schublade hervor: „. . . Vielleicht
läßt sich eine Kundschaft als Weihnachtsgeschenk
ihr Leben versichern . . ?“

Zcidinung von Lotbai Reiz

„Hier steht, daß
einMenschdurch-
schnittlich 10000
Worte täglich
spricht!“

„Na, siehste. ich
habe dir schon
immer gesagt,
daß du weit über
dem Durchschnitt
stehst!“

„Adolf, da schau her . . !“ rief ihm seine Frau entgegen.

Er sah her im Glauben —- entweder einen Kunden oder die
Christbaumspitze zu schauen.

„Ein Engerl . . ? Ich liah’ doch gesagt, daß wir eine Christbaum-
spitze brauchen . sprach er enttäuscht.

Der Engel setzte sich auf’s Kanapee und blickte die Policen wie
eine Hausaufgabe an.

„Wo kommt denn dies Engerl her . . ?“

„Vom Himmel hoch, da komm’ ich her . . .“

„In der Trambahn hab’ ich ihn kennen gelernt ... in der
Linie 23 . . .“ ergänzte seine Frau erläuternd.

„Soso ... in der Trambahn . . . Und wie wär’s mit einer Lebens-
versicherung oder Unfall, Hagelschlag . . ? fragte er das Engerl.
„Jetzt zünden wir zuerst den Baum an . . !“

Stearinkerzen tropften wie Freudetränen, die Aepfel bekamen
rote Backen, die Zweige wurden vibrierende Fingerspitzen, und
die nicht vorhandene Christbaumspitze stieß strahlend ein Loch
in die Zimmerdecke.

„ . . . die erst frisch geweißt wurde . . . ! brummte der Agent.
„Macht ja nichts . . . es ist ja Weihnachten . . !“ tröstete die Frau

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