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Der wahre Jakob: illustrierte Zeitschrift für Satire, Humor und Unterhaltung — 54.1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.8269#0034
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Der deutsche Funk

Kurzgefaßte Einführung in die höhere Diplomatie

Von Gerhard Gleissberg

Kapitel 1; Abrüstung und Schulden.

Das schwierigste Problem der Nachkriegszeit läßt sich in der Frage zusammenfassen: Wie können die Staaten

Europas ihre Schulden bezahlen, wenn sie nicht abrüsten? Um der Lösung dieser Frage näher zu kommen,
stelle man folgende Ueberlegung an: Wenn die Staaten Europas abrüsten würden, dann hätten sie Geld genug,

um ihre Schulden bezahlen zu können. Wenn sie ihre Schulden bezahlen könnten, dann hätten sie keinen
Grund, sich gegenseitig zu beschuldigen und zu bedrohen. Wenn sie sich gegenseitig nicht beschuldigen und
bedrohen würden, dann hätten sie auch keinen Grund, mit der Abrüstung zu zögern. Wenn aber die Staaten
abrüsten würden, dann könnten sie die Schuldner nicht bedrohen, wenn sie nicht zahlen wollen. Wenn nun
aber die Schuldner nicht zahlen, dann haben sie auch nicht nötig abzurüsten. Wenn die Schuldner aber nicht
abrüsten, dann können auch die Gläubiger nicht abrüsten. Wenn aber niemand abrüstet, dann können auch die
Schulden nicht bezahlt werden. Woraus folgt, daß die Fragen der Abrüstung und der Schulden erstens aufs
engste Zusammenhängen und zweitens nahezu unlösbar sind.

Kapitel 2: Zollpolitik.

Um die nahezu unlösbaren Fragen dennoch zu lösen, müssen die beteiligten Staaten den Versuch der Ver-
ständigung und Zusammenarbeit machen. Um die Notwendigkeit dieser Zusammenarbeit zu beweisen, müssen
die Staaten zu der Einsicht geführt werden, daß sie sich gegenseitig nicht entbehren können. Um diese Un-
entbehrlichkeit zu beweisen, müssen sie sich gegenseitig mit Ein- und Ausfuhrsperren bedrohen. Wenn also
ein Staat sich weigert, fremde Waren einzuführen, dann müssen sich auch die anderen Staaten weigern, ihm die
Ausfuhr der eigenen Waren zu gestatten. Wenn aber einStaat ohne Einfuhr und Ausfuhr ist, dann verschärft
sich notwendig die Krise seiner Wirtschaft. Um nun seine bedrohte Wirtschaft zu schützen, muß der Staat zu
zollpolitischen Maßnahmen greifen. Wenn er zu solchen Maßnahmen greift, dann bleibt die Ein- und Ausfuhr-
sperre bestehen. Woraus folgt, daß erstens die gegenseitige Unentbehrlichkeit der Staaten aufs engste mit der
Unentbehrlichkeit der Zollschranken zusammenhängt und daß zweitens die Lösung der daraus entstehenden
Probleme äußerst schwierig ist.

Kapitel 3: Der Modus.

Um die nahezu unlösbaren und die äußerst schwierigen Probleme trotz allem zu lösen, muß man versuchen,
einen Modus zu finden, der den beteiligten Staaten die Abrüstung, die Schuldenzahlung und die Aufhebung
der Zollschranken erleichtert. Wenn dieser Modus die notwendigen Maßnahmen erleichtern soll, dann muß er

Zeichnung von Hans Kossatz

Die Mutter: „Dieser Schiichterling — drehen wir'mal „Nanu?!“
kommt und kommt nichtweiter — das Licht aus!“

so geartet sein, daß er allen beteiligten Staaten angenehm erscheint. Da aber jedem Staat nur das angenehm
erscheint, was anderen Staaten unangenehm ist, so ist eine Einigung kaum zu erzielen. Woraus folgt, daß der
Modus zwar gefunden werden muß, aber schwerlich gefunden werden kann.

Kapitel 4: Die Konferenzen.

Wenn es trotz aller dieser Schwierigkeiten zu einer Verständigung kommen soll, dann bleibt kein anderer
Weg, als die leitenden Staatsmänner aller Nationen zu gemeinsamer Verhandlung zusammenzuberufen. Wenn
eine solche Verhandlung zur friedlichen Einigung führen soll, dann muß ein allgemeiner Meinungsaustausch
stattfinden. Wenn dieser Meinungsaustausch stattfindet, dann setzt jeder der anwesenden Staatsmänner seinen
Ehrgeiz darein, eine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Da auf diese Weise eine sehr große Zahl ver-
schiedener Meinungen geäußert wird, müssen sich die Verhandlungen sehr in die Länge ziehen. Wenn sich
aber die Verhandlungen in die Länge ziehen, dann müssen die leitenden Staatsmänner wieder abreisen, da sie
nicht den Anschein erwecken können, als wären sie im eigenen Lande entbehrlich. Woraus folgt, daß Konfe-
renzen zu keiner anderen Entscheidung führen, als zur Vertagung.

Kapitel 5: Besprechungen und Besuche.

Da aber mehr erreicht werden muß als Vertagung der Entscheidungen, ist es nötig, eine Atmosphäre des Ver-
trauens zu schaffen. Um diese Atmosphäre zu schaffen, müssen sich die leitenden Staatsmänner in engstem
Kreise freundschaftlich aussprechen. Um solche Besprechungen führen zu können, müssen sie sich gegenseitig
besuchen. Um bei solchen Besuchen Freundschaft zu schließen, müssen sie einen äußerst höflichen Ton an-
schlagen. Da es aber im Wesen der Höflichkeit liegt, daß man Aeußerungen tut, die nicht ernst gemeint sind,
erregen die bei Staatsbesuchen gesprochenen Worte fast immer Mißtrauen. Um dieses Mißtrauen zu über-
winden, muß man bei diesen freundschaftlichen Besprechungen konkrete und vorteilhafte Angebote machen.
Wenn solche Angebote gemacht werden, fühlen sich aber alle die zurückgesetzt, die an der Besprechung nicht
teilgenommen haben. Weil sie sich zurückgesetzt fühlen, protestieren sie gegen die getroffenen Vereinbarungen.
Weil sie protestieren, ist keine allgemeine Einigung möglich. Woraus folgt, daß auch freundschaftliche Be-
sprechungen und Besuche nicht zum Ziele führen.

Kapitel 6: Kommissionen und Verträge.

Um dem Ziele näher zu kommen, muß man die Lösung der schwebenden Probleme besonderen Kommissionen
überweisen. Da die Arbeit dieser Kommissionen langwierig und schwierig ist, können die leitenden Staats-
männer daran nicht teilnehmen. Da die leitenden Staatsmänner nicht daran teilnehmen können, müssen sie
Abgesandte in die Kommissionen schicken. Da diese Abgesandten an die Beschlüsse ihrer Regierungen gebun-
den sind, müssen sie auf dem Standpunkt ihrer Regierung verharren. Wenn sie auf diesem Standpunkt ver-
harren, können sie sich mit den Abgesandten der anderen Regierungen nicht einigen. Um sich trotzdem zu
einigen, müssen sie ihre Vorgesetzten Regierungen dazu bewegen, von ihrem vorgefaßten Standpunkt abzu-
weichen. Wenn die Regierungen das tun, dann ist eine Einigung möglich. Kommt sie zustande, dann kann
ein Vertrag geschlossen werden. Wird ein Vertrag geschlossen, dann ist es möglich, daß er in Kraft tritt.
Soll er in Kraft treten, dann muß er von den beteiligten Mächten ratifiziert werden. Wird er ratifiziert,
dann hat jede der beteiligten Mächte die Möglichkeit, den Vertrag so auszulegen, wie sie es für vorteilhaft hält.
Woras folgt, daß die Lösung der schwebenden Probleme durch Verträge dazu führt, daß nun die Verträge
schwebende Probleme werden.

Kapitel 7: Die Völker.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die höhere Diplomatie eine sehr komplizierte Angelegenheit ist. Sie kann
durch Einmischungen Unbefugter empfindlich gestört werden. Solche Einmischungen drohen besonders von
seiten der Völker, über deren Schicksal die höhere Diplomatie entscheidet. Die Diplomaten können mit Recht
verlangen, daß solche Einmischungen unterbleiben. Die Diplomaten haben Anspruch darauf, daß ihre Völker
sich einmütig hinter sie stellen. Bei Zuwiderhandlungen sind die Diplomaten dazu berechtigt, aufs tiefste
beleidigt und aufs äußerste entrüstet zu sein.
 
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