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ZUR EINLEITUNG

Und je mehr nun Dürers Welt arm wird, um so stärker tritt in der Formenanordnung
eine Strenge und Gebundenheit zutage, die auf unser Gefühl notwendig noch einmal
abkühlend wirken muß. Die germanische Kunst ist eine Kunst des freien und unmittel-
baren Ausdrucks — ,,die Rührung macht den Vers und nicht gezählte Töne“ (Haller,
Die Alpen) —, die romanische Kunst gefällt sich in der gebundenen Form. Ein Italiener
des 16. Jahrhunderts konnte eine hoch leidenschaftliche Szene in eine ganz strenge
Komposition spannen. Für einen Deutschen bleibt das immer nur halb verständlich.
Das lebendige Geschehen kann sich nicht in Fesseln schlagen lassen, sondern will in
freiem Rhythmus daherwogen. Wir haben die prachtvollsten freirhythmischen Ein-
fälle bei den Malern, die Dürers Zeitgenossen gewesen sind. Er selbst dagegen bekundet
früh die Neigung, die italienisch-strengen Schemata anzuwenden. Er baut künstliche
Figuren-Pyramiden, arbeitet mit gewissen Entsprechungen der Seiten, zunächst nur
vereinzelt, gleichsam probeweise, bis dann in der mittleren Zeit der Drang sich durch-
setzt, die große historische Szene in fest gebundener Form zu komponieren, mitbetonter
Mittelachse, strengen Symmetrien usw.
Man nennt das tektonische Komposition. Der Begriff verträgt aber eine viel ausge-
dehntere Anwendung. Die Frontalität und Rechtwinkligkeit des Reiters mit Tod und
Teufel ist ebenso tektonisch wie die Gruppe von Adam und Eva im Stich des Sünden-
falls. Von andern Fällen zu schweigen. So selbstverständlich diese Bildform dem Italiener
ist, wir Nordländer sind empfindlich dagegen und lehnen sie bald als Starrheit ab. Bild-
werke dieser Art erscheinen uns — auf einer gewissen Entwicklungsstufe — als ge-
macht und nicht als lebendig, als kunsthaft und nicht als naturhaft, und so wenig es
sich um einen ausschließlichen Gegensatz handeln kann, da selbstverständlich auch
im scheinbar-zufälligen Kunstwerk ein ästhetisches Gesetz waltet, so hat das Strenge
bei uns doch andere Grenzen als bei den Romanen. Dürer verhält sich ungleich; es gibt
bei ihm neben ganz gebundenen Arbeiten auch wieder merkwürdig freie, eben des-
wegen aber wird man immer geneigt sein, ihm dort eine Verleugnung der eignen Natur
und ein allzu großes Entgegenkommen gegenüber fremden Idealen zum Vorwurf zu
machen. Wie selten ist man bei ihm von einer ,,Vision“ zu sprechen veranlaßt!
Und endlich muß noch von einem Motiv die Rede sein, das rein italienischen Charakters
ist: das Problem der schönen Proportion. Es hat Dürer gerade in den Hauptzeiten seines
Lebens leidenschaftlich beschäftigt. In mühevollen langen Studien hat er die Frage unter-
sucht, wie die vollkommene Gestalt des Menschen beschaffen sein müßte. Er hat sie
zu verschiedenen Zeiten verschieden beantwortet und ist schließlich davon abgekommen,
das eine Vollkommene zu suchen. Die höchste Schönheit kennt Gott allein, wir müssen
uns begnügen, die durchgehende Harmonie in den verschiedenen Typen des Schlanken
und Breiten, Dicken und Dünnen zu verstehn, wobei es dem individuellen Geschmack
überlassen bleibt, welche er bevorzugen will.
Ohne zu erörtern, wieviel von solchen Spekulationen in das künstlerische Werk über-
gegangen ist, wollen wir nur die prinzipielle Seite der Sache ins Auge fassen. Man kann
wohl sagen, Dürer sei bei dieser Angelegenheit gedeckt gewesen durch ein allgemeines
 
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