DIE APOKALYPSE
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Bart und Turban, Gewand und Schmuck fast alle Register der Linienzeichnung ge-
zogen sind.
Obwohl es an erster Stelle steht, gehört das Stück seiner Entstehung nach sicher zu
den allerletzten. Man kann es direkt als das eine Ende dem Blatt mit der babylonischen
Hure als dem andern Ende gegenüberstellen, und diese Grenzen umschließen ein so
großes Stück Entwicklung, daß man mit der Datierung der früheren Blätter jedenfalls
um mehr als ein Jahr vor das Publikationsjahr 1498 zurückgehen muß1). Einen bün-
digen Anschluß an den ersten bekannten Holzschnitt, den Basler Hieronymus, gewinnt
man freilich auch so noch nicht2).
3-
Neben der Apokalypse gibt es noch ein paar Einzelblätter vom gleichen großen Format,
wo Dürer, ohne alle Mühsal eines widerspenstigen Stoffes, ganz frei die Glieder reckt.
Sie sind im Stil den entwickelteren apokalyptischen Zeichnungen verwandt. Ein Teil
davon behandelt die große physische Bewegung, ein anderer (und es ist nicht der ge-
ringere) gibt nur das ruhige Dasein, das sich in diesem Stil der strömenden Linie zu
einer merkwürdigen Pracht verklärt3).
Nichts wirkt festlicher als die Maria mit den Hasen (B. 102), nur muß man den Strich
in seiner ganzen originalen Größe und Breite sehen und in der saftigen Schwärze eines
guten Druckes. Sie sitzt glücklich und still im Freien, und das stehende Kind auf ihrem
Schoße spielt mit einem Buch, und dahinter erscheint Joseph, ehrerbietig mit abge-
nommenem Hut — gar nichts Besonderes im Motiv, aber alles strahlt in diesem Blatte.
Das ist die ganze satte Pracht der Dürerschen Jugendlinie. Der Körper als plastische
Form ist zwar noch unentwickelt, aber was tut das? Das Auge wird mitgerissen von
dem Reichtum des Gefälts, das in plätscherndem Formenüberschwang am Boden sich
staut. Die Pflanzen mit den gerollten Blättern führen die Bewegung weiter, alles atmet
Fülle des Lebens, und was für ein entzückendes Allegro in jenem fliegenden Puttenpaar
mit der Krone, das die Komposition nach oben abschließt!
Ein anderes Blatt, Simson, der dem Löwen den Fuß auf den Nacken setzt und den
Rachen auseinanderreißt (B. 2), vergleicht sich in der nervigen Energie mit den Würg-
engeln vom Euphrat. Es ist ein oft behandelter Bildstoff, aber alles, was Kraft ist daran,
war als Ausdruck neu zu entdecken. Dürer geht auch hier von einem Linienbild aus
(keinem bloßen Konturbild), das eine gewisse suggestive Macht hat, ohne das Motiv
zu plastischer Deutlichkeit durchgebildet zu enthalten. Im Sinne der bildnerischen Klar-
heit bleibt es ein Fehler, daß der den Löwen niedertretende Fuß, der Träger der größten
Energie, nicht auch der sichtbare Teil im ganzen ist: das Bein wird fast völlig über-
schnitten^).
In dieser Beziehung wirkt der ,,Er cules“ mit den zwei Gewappneten am Boden (B. 127)
günstiger, obwohl das Blatt sicher älter ist. Welche Herkulesgeschichte gemeint ist,
dürfte nicht mehr zweifelhaft sein. Herkules vollzieht ein rasendes Strafgericht an
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Bart und Turban, Gewand und Schmuck fast alle Register der Linienzeichnung ge-
zogen sind.
Obwohl es an erster Stelle steht, gehört das Stück seiner Entstehung nach sicher zu
den allerletzten. Man kann es direkt als das eine Ende dem Blatt mit der babylonischen
Hure als dem andern Ende gegenüberstellen, und diese Grenzen umschließen ein so
großes Stück Entwicklung, daß man mit der Datierung der früheren Blätter jedenfalls
um mehr als ein Jahr vor das Publikationsjahr 1498 zurückgehen muß1). Einen bün-
digen Anschluß an den ersten bekannten Holzschnitt, den Basler Hieronymus, gewinnt
man freilich auch so noch nicht2).
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Neben der Apokalypse gibt es noch ein paar Einzelblätter vom gleichen großen Format,
wo Dürer, ohne alle Mühsal eines widerspenstigen Stoffes, ganz frei die Glieder reckt.
Sie sind im Stil den entwickelteren apokalyptischen Zeichnungen verwandt. Ein Teil
davon behandelt die große physische Bewegung, ein anderer (und es ist nicht der ge-
ringere) gibt nur das ruhige Dasein, das sich in diesem Stil der strömenden Linie zu
einer merkwürdigen Pracht verklärt3).
Nichts wirkt festlicher als die Maria mit den Hasen (B. 102), nur muß man den Strich
in seiner ganzen originalen Größe und Breite sehen und in der saftigen Schwärze eines
guten Druckes. Sie sitzt glücklich und still im Freien, und das stehende Kind auf ihrem
Schoße spielt mit einem Buch, und dahinter erscheint Joseph, ehrerbietig mit abge-
nommenem Hut — gar nichts Besonderes im Motiv, aber alles strahlt in diesem Blatte.
Das ist die ganze satte Pracht der Dürerschen Jugendlinie. Der Körper als plastische
Form ist zwar noch unentwickelt, aber was tut das? Das Auge wird mitgerissen von
dem Reichtum des Gefälts, das in plätscherndem Formenüberschwang am Boden sich
staut. Die Pflanzen mit den gerollten Blättern führen die Bewegung weiter, alles atmet
Fülle des Lebens, und was für ein entzückendes Allegro in jenem fliegenden Puttenpaar
mit der Krone, das die Komposition nach oben abschließt!
Ein anderes Blatt, Simson, der dem Löwen den Fuß auf den Nacken setzt und den
Rachen auseinanderreißt (B. 2), vergleicht sich in der nervigen Energie mit den Würg-
engeln vom Euphrat. Es ist ein oft behandelter Bildstoff, aber alles, was Kraft ist daran,
war als Ausdruck neu zu entdecken. Dürer geht auch hier von einem Linienbild aus
(keinem bloßen Konturbild), das eine gewisse suggestive Macht hat, ohne das Motiv
zu plastischer Deutlichkeit durchgebildet zu enthalten. Im Sinne der bildnerischen Klar-
heit bleibt es ein Fehler, daß der den Löwen niedertretende Fuß, der Träger der größten
Energie, nicht auch der sichtbare Teil im ganzen ist: das Bein wird fast völlig über-
schnitten^).
In dieser Beziehung wirkt der ,,Er cules“ mit den zwei Gewappneten am Boden (B. 127)
günstiger, obwohl das Blatt sicher älter ist. Welche Herkulesgeschichte gemeint ist,
dürfte nicht mehr zweifelhaft sein. Herkules vollzieht ein rasendes Strafgericht an