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DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
zu sehen. Und die Malerei bleibt hinter den Zeichnungen nicht zurück: in dem wunder-
vollen Frauenkopf der Berliner Galerie ist ein Non-plus-ultra großflächigen Sehens
erreicht. Für alles, was Lichtbehandlung heißt, war Diirer ja sehr gut vorbereitet,
und wenn sein Kolorit neben venezianischer Feinheit tonlos erscheinen kann, so
weiß man doch von seinen graphischen Arbeiten her, wie entwickelt sein Licht-
gefiihl — ich brauche das Wort nach Analogie von „Farbgefiihl“ — gewesen ist, aber
er braucht das Licht in erster Linie im plastischen Interesse. Auf der dunkeln Seite
der Form bemerkt man jetzt fast durchweg, daß ein Reflexlicht da ist und der tiefe
Schatten bis auf einen schmalen Streifen aufgezehrt ist, der dann wie ein von der
Welle am Ufer zurückgelassener Schaumkamm zwischen dem Hellen und dem
Lichtabgewandten sitzt. (Vgl. den weiblichen Akt L. 138, Wö. 24 der allerdings
wegen der Verkleinerung die Sache nur halb deutlich machen kann1)-)
Und wie muß die gleichmäßige Klarheit der Figurenzeichnung jetzt auf ihn gewirkt
haben, wo er die mühsame Selbsterziehung bis zum Adam- und Evastich hinter sich
hatte. Die Venezianer, wenn sie schon nicht die plastischen Tendenzen der floren-
tinischen Kunst verfolgten, hatten als Italiener dem Deutschen noch so viel Neues zu
bieten, daß man begreifen würde, wenn er zu einer Unterscheidung des Mehr oder
Weniger von plastischem Gehalt gar nicht gekcmmen wäre. Wie klar die Form überall
sich auseinanderlegte und wieviel plastischen Reichtum so ein Bild umschloß! Ein
stiller Bellini, wie das genannte Altarstück von 1505, ist dem Dürerschen Dreikönigs-
bild von 1504 eben doch noch unendlich überlegen in der Regsamkeit der Figuren
und dem Reichtum der räumlichen Verhältnisse. Die überzeugende Gelenkigkeit der
Neigungen und Wendungen, das Auseinandergehen der Richtungen, die Empfindung
für die Stellung der Körper im Raum — das sind Eigenschaften, über die Dürer noch
nicht verfügte. Dazu kam dann die monumentale Anordnung der Figuren und der
große Maßstab überhaupt. Er mußte spüren, daß Bilder zu etwas Höherem berufen
sein könnten, als nur wie vereinzelte Zierstücke im Kirchenraum zerstreut zu werden;
hier waren sie ein Teil der Architektur, und für das Zusammen der Figuren waren
Anordnungen gefunden, die ihrerseits schon mit einer fast architektonischen Gewalt
sprachen.
Sicher ist eine große Steigerung des Lebensgefühls damals über ihn gekommen.
Er gewinnt die Anschauung einer Menschheit, die eine höhere Würde besitzt, die in
größeren Gebärden spricht und der man ein lebendigeres Leben zutrauen möchte.
Das Schwere und Befangene des nordischen Daseins fällt von ihm ab. Das Auge
öffnet sich weiter und erhält einen strahlenderen Blick. Es erschließt sich eine Welt
von neuer Bewegung, und unbekannte Gebiete der Seele tun sich auf.
Erwartungsvoll fragt man, in was für Werken diese neue Empfindung ausgeströmt
sei. Es ist eine kleine Reihe, und wer von modernen Verhältnissen herkommt, wird
kaum eines darunter als eine wirklich persönliche Äußerung anerkennen wollen.
Das Rosenkranzbild, die Berliner Madonna, ein paar Köpfe, vielleicht noch die großen
Figuren von Adam und Eva, die wenigstens in den Studien auf Venedig zurückgehen,
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
zu sehen. Und die Malerei bleibt hinter den Zeichnungen nicht zurück: in dem wunder-
vollen Frauenkopf der Berliner Galerie ist ein Non-plus-ultra großflächigen Sehens
erreicht. Für alles, was Lichtbehandlung heißt, war Diirer ja sehr gut vorbereitet,
und wenn sein Kolorit neben venezianischer Feinheit tonlos erscheinen kann, so
weiß man doch von seinen graphischen Arbeiten her, wie entwickelt sein Licht-
gefiihl — ich brauche das Wort nach Analogie von „Farbgefiihl“ — gewesen ist, aber
er braucht das Licht in erster Linie im plastischen Interesse. Auf der dunkeln Seite
der Form bemerkt man jetzt fast durchweg, daß ein Reflexlicht da ist und der tiefe
Schatten bis auf einen schmalen Streifen aufgezehrt ist, der dann wie ein von der
Welle am Ufer zurückgelassener Schaumkamm zwischen dem Hellen und dem
Lichtabgewandten sitzt. (Vgl. den weiblichen Akt L. 138, Wö. 24 der allerdings
wegen der Verkleinerung die Sache nur halb deutlich machen kann1)-)
Und wie muß die gleichmäßige Klarheit der Figurenzeichnung jetzt auf ihn gewirkt
haben, wo er die mühsame Selbsterziehung bis zum Adam- und Evastich hinter sich
hatte. Die Venezianer, wenn sie schon nicht die plastischen Tendenzen der floren-
tinischen Kunst verfolgten, hatten als Italiener dem Deutschen noch so viel Neues zu
bieten, daß man begreifen würde, wenn er zu einer Unterscheidung des Mehr oder
Weniger von plastischem Gehalt gar nicht gekcmmen wäre. Wie klar die Form überall
sich auseinanderlegte und wieviel plastischen Reichtum so ein Bild umschloß! Ein
stiller Bellini, wie das genannte Altarstück von 1505, ist dem Dürerschen Dreikönigs-
bild von 1504 eben doch noch unendlich überlegen in der Regsamkeit der Figuren
und dem Reichtum der räumlichen Verhältnisse. Die überzeugende Gelenkigkeit der
Neigungen und Wendungen, das Auseinandergehen der Richtungen, die Empfindung
für die Stellung der Körper im Raum — das sind Eigenschaften, über die Dürer noch
nicht verfügte. Dazu kam dann die monumentale Anordnung der Figuren und der
große Maßstab überhaupt. Er mußte spüren, daß Bilder zu etwas Höherem berufen
sein könnten, als nur wie vereinzelte Zierstücke im Kirchenraum zerstreut zu werden;
hier waren sie ein Teil der Architektur, und für das Zusammen der Figuren waren
Anordnungen gefunden, die ihrerseits schon mit einer fast architektonischen Gewalt
sprachen.
Sicher ist eine große Steigerung des Lebensgefühls damals über ihn gekommen.
Er gewinnt die Anschauung einer Menschheit, die eine höhere Würde besitzt, die in
größeren Gebärden spricht und der man ein lebendigeres Leben zutrauen möchte.
Das Schwere und Befangene des nordischen Daseins fällt von ihm ab. Das Auge
öffnet sich weiter und erhält einen strahlenderen Blick. Es erschließt sich eine Welt
von neuer Bewegung, und unbekannte Gebiete der Seele tun sich auf.
Erwartungsvoll fragt man, in was für Werken diese neue Empfindung ausgeströmt
sei. Es ist eine kleine Reihe, und wer von modernen Verhältnissen herkommt, wird
kaum eines darunter als eine wirklich persönliche Äußerung anerkennen wollen.
Das Rosenkranzbild, die Berliner Madonna, ein paar Köpfe, vielleicht noch die großen
Figuren von Adam und Eva, die wenigstens in den Studien auf Venedig zurückgehen,