NEUER GRAPHISCHER STIL. DIE KLEINERN PASSIONEN
237
ter. Der große Holzschnitt hebt
dann den Vorgang nochmal um
eine Stufe empor, indem er Chri-
stus auf Wolken wandeln läßt.
Die nüchterne Gesinnung der Alt-
vordern hatte sich mit dem bloßen
Heraussteigen aus dem Sarko-
phag begnügt und dabei auf das
Dekorum keinen besonderen Wert
gelegt.
In diesem Augenblick versuchte
Dürer aber einen noch höheren
Schwung zu nehmen: es gibt eine
sorgfältig durchgeführte Zeich-
nung in Weißhöhung von 1510,
wo nicht mehr das Gehen, son-
dern das Fliegen dargestellt ist
(Albertina, L. 520, W. 487)1), ein
heftiges Abstoßen mit etwas Un-
tensicht. Das Gegenstück dazu war
ein Simson unter den Philistern
mit dem Eselskinnbacken — die alt-
testamentliche Parallele zur Auf-
erstehung — jetzt in Berlin (L. 24,
W. 486)2). Beide Darstellungen zu-
sammen bildeten ein kleines Zwei-
flügelaltärchen.
Der Schmerzensmann. — KP. Die Grablegung (Kupferstichpassion)
1509, große HP., kleine HP. Die
Empfindung der Christen befriedigte sich nicht bei der Gestalt des Ecce homo und
den anderen Situationen der Passion, sie wollte noch eine Leidensfigur außerhalb
der historischen Szenen haben, in der die Summe aller Schmerzen zusammen-
gezogen und der Andacht vor Augen gestellt wäre: die drei gedruckten Passionen
haben als Titelbild den ,,Schmerzensmann“.
Der Kupferstich von 1509, der die Reihe eröffnet, zeigt den entkleideten Christus
stehend, mit zitternden Knieen und wie fröstelnd die Arme zusammennehmend;
Geißel und Rute sind ihm in die Hände gegeben; die Seitenwunde blutet; im Rücken
steht die Martersäule. Dürer hatte diesen Typus schon früher einmal in einem Stich
behandelt (B. 20), der allem Anschein nach in die Zeit der grünen Passion gehört und
eigentlich wenig mehr gibt als einen schönen Körper in einer schönen Bewegung
der Beine. Jetzt erst ist es die Sache, die spricht. Und alsbald verschwindet auch das
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ter. Der große Holzschnitt hebt
dann den Vorgang nochmal um
eine Stufe empor, indem er Chri-
stus auf Wolken wandeln läßt.
Die nüchterne Gesinnung der Alt-
vordern hatte sich mit dem bloßen
Heraussteigen aus dem Sarko-
phag begnügt und dabei auf das
Dekorum keinen besonderen Wert
gelegt.
In diesem Augenblick versuchte
Dürer aber einen noch höheren
Schwung zu nehmen: es gibt eine
sorgfältig durchgeführte Zeich-
nung in Weißhöhung von 1510,
wo nicht mehr das Gehen, son-
dern das Fliegen dargestellt ist
(Albertina, L. 520, W. 487)1), ein
heftiges Abstoßen mit etwas Un-
tensicht. Das Gegenstück dazu war
ein Simson unter den Philistern
mit dem Eselskinnbacken — die alt-
testamentliche Parallele zur Auf-
erstehung — jetzt in Berlin (L. 24,
W. 486)2). Beide Darstellungen zu-
sammen bildeten ein kleines Zwei-
flügelaltärchen.
Der Schmerzensmann. — KP. Die Grablegung (Kupferstichpassion)
1509, große HP., kleine HP. Die
Empfindung der Christen befriedigte sich nicht bei der Gestalt des Ecce homo und
den anderen Situationen der Passion, sie wollte noch eine Leidensfigur außerhalb
der historischen Szenen haben, in der die Summe aller Schmerzen zusammen-
gezogen und der Andacht vor Augen gestellt wäre: die drei gedruckten Passionen
haben als Titelbild den ,,Schmerzensmann“.
Der Kupferstich von 1509, der die Reihe eröffnet, zeigt den entkleideten Christus
stehend, mit zitternden Knieen und wie fröstelnd die Arme zusammennehmend;
Geißel und Rute sind ihm in die Hände gegeben; die Seitenwunde blutet; im Rücken
steht die Martersäule. Dürer hatte diesen Typus schon früher einmal in einem Stich
behandelt (B. 20), der allem Anschein nach in die Zeit der grünen Passion gehört und
eigentlich wenig mehr gibt als einen schönen Körper in einer schönen Bewegung
der Beine. Jetzt erst ist es die Sache, die spricht. Und alsbald verschwindet auch das