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DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
Was soll das heißen? Als Erklärung steht
oben, den Flügeln eines fledermausähnli-
chen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort:
MELENCOLIA I1).
„Melancholie“ hat einen doppelten Sinn.
Wir kennen nur noch den einen, daß es eine
Gemütserkrankung ist, die den Menschen
lähmt und von allen Seiten mit Hinder-
nissen umstellt, daneben aber bezeichnet
Melancholie eines der vier Temperamente,
und der Melancholiker in diesem Sinne
braucht kein Kranker zu sein: es sind nach
Aristoteles die ernsten, zumgeistigen Schaf-
fen veranlagten Naturen.
Als eine Darstellung des tiefen spekulativen
Denkens ist Dürers Stich denn auch oft
verstanden worden. Daß er nichts anderes zu geben beabsichtigte als den forschenden
Geist, der vom Experiment zur Synthese übergegangen ist und in intensivster An-
spannung des Gedankens die Ahnungen der inneren Anschauung sich zur Deutlichkeit
zu bringen versucht. Selbstvergessen, unberührt vom Gegenwärtigen säße die Frau
da, nur ihrer Vision nachdrängend, ein Urbild wissenschaftlich-schöpferischer Arbeit.
Aber wie? Ist diese Lähmung wirklich nur die Maske der höchsten Produktivität?
Daß etwas lebendig ist in dieser unbeweglichen Gestalt, sieht man wohl, der gespannte
Blick, die festgeschlossene Faust sprechen von einem Wollen; aber hat man den Ein-
druck, daß diese Frau in einer Tätigkeit sich befindet, die ihr angemessen ist? Handelt
es sich nicht vielmehr um einen Zustand von durchdringendem Unbehagen? Und das
tiefbeschattete Gesicht, die wirren Haare — sie bedeuten doch etwas? Und wenn auch
vielleicht ein Moderner findet, der Forscher müsse unwirsch sein in der Frisur und
das Ungeordnete im Raum habe etwas Prickelnd-Anregendes, so ist das eben modern
empfunden. Die Studierstube des 16. Jahrhunderts ist von peinlicher Ordnung und
Stille, und es ist kaum anders denkbar, als daß die Zeitgenossen von Dürers Melan-
cholie zunächst aufs heftigste durch das Ungleichgewichtige im Bilde betroffen
worden seien.
Eine weitere Überlegung bestätigt, daß wir mit dieser Deutung auf dem richtigen
Wege sind. Auch die ,,Melancholie“ hat ihre Vorgänger. Populär wie die Lehre von
den Temperamenten war, wird sie in den Kalendern traktiert mit Vers und Bild. Da
ist dann der Melancholiker der Mann, der die Arme auf den Tisch und den Kopf auf
die Arme gelegt hat, und seine Frau ist am Spinnrocken eingeschlafen. S. Abb.3). Die
Unlust zu jeder Tätigkeit galt als der entscheidende Zug im Wesen des Melancho-
likers. Melancholie überhaupt aber war der ,,unedelste Komplex“. So lautete das
volkstümliche Urteil, ganz im Gegensatz zu der Lehre des Aristoteles.
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
Was soll das heißen? Als Erklärung steht
oben, den Flügeln eines fledermausähnli-
chen Fabeltieres eingeschrieben, das Wort:
MELENCOLIA I1).
„Melancholie“ hat einen doppelten Sinn.
Wir kennen nur noch den einen, daß es eine
Gemütserkrankung ist, die den Menschen
lähmt und von allen Seiten mit Hinder-
nissen umstellt, daneben aber bezeichnet
Melancholie eines der vier Temperamente,
und der Melancholiker in diesem Sinne
braucht kein Kranker zu sein: es sind nach
Aristoteles die ernsten, zumgeistigen Schaf-
fen veranlagten Naturen.
Als eine Darstellung des tiefen spekulativen
Denkens ist Dürers Stich denn auch oft
verstanden worden. Daß er nichts anderes zu geben beabsichtigte als den forschenden
Geist, der vom Experiment zur Synthese übergegangen ist und in intensivster An-
spannung des Gedankens die Ahnungen der inneren Anschauung sich zur Deutlichkeit
zu bringen versucht. Selbstvergessen, unberührt vom Gegenwärtigen säße die Frau
da, nur ihrer Vision nachdrängend, ein Urbild wissenschaftlich-schöpferischer Arbeit.
Aber wie? Ist diese Lähmung wirklich nur die Maske der höchsten Produktivität?
Daß etwas lebendig ist in dieser unbeweglichen Gestalt, sieht man wohl, der gespannte
Blick, die festgeschlossene Faust sprechen von einem Wollen; aber hat man den Ein-
druck, daß diese Frau in einer Tätigkeit sich befindet, die ihr angemessen ist? Handelt
es sich nicht vielmehr um einen Zustand von durchdringendem Unbehagen? Und das
tiefbeschattete Gesicht, die wirren Haare — sie bedeuten doch etwas? Und wenn auch
vielleicht ein Moderner findet, der Forscher müsse unwirsch sein in der Frisur und
das Ungeordnete im Raum habe etwas Prickelnd-Anregendes, so ist das eben modern
empfunden. Die Studierstube des 16. Jahrhunderts ist von peinlicher Ordnung und
Stille, und es ist kaum anders denkbar, als daß die Zeitgenossen von Dürers Melan-
cholie zunächst aufs heftigste durch das Ungleichgewichtige im Bilde betroffen
worden seien.
Eine weitere Überlegung bestätigt, daß wir mit dieser Deutung auf dem richtigen
Wege sind. Auch die ,,Melancholie“ hat ihre Vorgänger. Populär wie die Lehre von
den Temperamenten war, wird sie in den Kalendern traktiert mit Vers und Bild. Da
ist dann der Melancholiker der Mann, der die Arme auf den Tisch und den Kopf auf
die Arme gelegt hat, und seine Frau ist am Spinnrocken eingeschlafen. S. Abb.3). Die
Unlust zu jeder Tätigkeit galt als der entscheidende Zug im Wesen des Melancho-
likers. Melancholie überhaupt aber war der ,,unedelste Komplex“. So lautete das
volkstümliche Urteil, ganz im Gegensatz zu der Lehre des Aristoteles.