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DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS

Durch Giehlow wissen wir nun, daß seit kurzem die antike Meinung wieder zu Ehren
gebracht worden war. Marsilius Ficinus vertrat sie in seiner Schrift vom dreifachen
Leben, die auch ins Deutsche übersetzt war: ,,Alle Männer, so in einer großen Kunst
vortrefflich sind gewesen, die sind alle melancholici gewesen“. (Nach Cicero, Tuscul.
I., 33: omnes ingeniosos melancholicos esse)1)- Dürer hat diese Schrift gekannt und
mit seinem Stich im einzelnen und ganzen sich zu ihr bekannt. Er gibt nicht die be-
liebige tatenlose Schwerblütigkeit: um seine edlere Melancholie sind allerlei Zeichen
der messenden Wissenschaft und der Technik gehäuft. Aber immerhin — nicht die
Beschäftigung mit diesen Dingen ist dargestellt, sondern die völlige Apathie, und so-
mit schließt sich Dürer doch wieder an die älteren Darstellungen an.
Unsere Interpretation setzt nun aber voraus, daß der Begriff Melancholie von Dürer
bereits in der modernen Doppelbedeutung unterschieden worden sei: als normale
Temperamentsbestimmung, wo die schwarze Galle sich verträgt mit den anderen
Säften, und als jener Zustand des Ungleichgewichts, wo die Seele unlustig wird zu
jeder Tätigkeit. Haben wir das Recht, diese Voraussetzung zu machen? Gewiß. Dürer
gebraucht das Wort Melancholie in seinen Schriften zwar nur ein einziges Mal, aber
in einem sehr aufschlußreichen Zusammenhang. Er spricht von der Erziehung junger
Maler und erwähnt den Fall, daß der Lernende sich überanstrengte, daß er ,,zu viel
sich übte“. Dann würde ihm davon die ,,Melancholie überhandnehmen“ und man
müßte mit kurzweiligem Saitenspiel versuchen, das ,,Geblüt zu ergötzen“2). Das ist
gerade, was wir zur Erklärung des Stiches brauchen. Die Verdüsterung eines jungen
Künstlers hat Dürer zwar nicht dargestellt, das geistige Bemühen ist ganz universal
gefaßt, und die nach damaliger Anschauung zentrale Tätigkeit, die mathematische,
als Hauptmotiv herausgenommen, kein Zweifel aber, daß die Situation nicht mehr
das Tun, sondern eine Hemmung im Tun gibt, d. h. eben jenen Zustand, dem der
Melancholiker so leicht ausgesetzt ist, wo das Blut schwarz und schwer geworden ist,
d. h. die Melancholie ,,überhandgenommen“ hat. Der Abend ist besonders gefährlich.
Auf diese Stunde deutet die Fledermaus.
Die melancholische Depression ist bei Marsilius Ficinus eingehend beschrieben. In
der überlangen Beschäftigung mit geistigen Dingen (bei der ,,steten Lehr“) hat sich
das leichte Blut verzehrt, das Gehirn ist kalt und trocken geworden, die Vernunft
ist verstopft. ,,Die Vernunft ist verstopft“: es läßt sich nicht treffender der Zustand
der Frau auf Dürers Stich kennzeichnen. Der Blick geht ins Leere. Die Kugel ist
dem Schoß entrollt, der Zirkel hat nichts mehr zu tun. Man spricht wohl auch von
einem grüblerischen Vor-sich-hin-Brüten. Das ist dann aber nicht als die Ursache,
sondern als die Folge des melancholischen Anfalls zu verstehen3).
Man tut sicher unrecht, aus Dürers Melancholie ein faustisches Geständnis heraus-
lesen zu wollen: ,,— und sehe, daß wir nichts wissen können“. Zwar meint man immer
wieder, es müsse in dem großen Block eine quälende unlösbare Frage stecken. Er
steht so auffällig im Bilde, daß man ihm gar nicht ausweichen kann. Wenn er nur
wirklich irgendein mathematisches Problem enthielte, etwas wie die Quadratur des
 
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