DAS PROBLEM DER SCHÖNHEIT
361
sichtbaren Kreaturen eine solch übermäßige Schönheit unserm Verstand, also daß
solche unser keiner kann vollkommen in sein Werk bringen.“
Daß die Figuren seines Proportionswerkes in der Natur wirklich genau so vorkämen,
will Dürer nicht behaupten. Es mögen auch noch Fehler in der Konstruktion sein,
daß sie von der Wahrheit und Schönheit des Möglichen abweichen: mag ein anderer
es besser machen. Den Ruhm aber glaubt er in Anspruch nehmen zu dürfen, daß er
der erste sei, der in deutschen Landen solche Dinge behandelt und daß er es ohne
Meister und Vorbild zustande gebracht habe.
3-
Moderne Kiinstler werden von der ganzen Proportionsgeschichte nicht viel wissen
wollen. Sie werden einwenden, daß es feststehende Maße fiir schöne Gestalten iiber-
haupt nicht geben könne, weil diese Maße je nach der Umgebung ihre Wirkung än-
derten, geschweige denn, daß sie in den verschiedenen Bewegungen des Modells sich
behaupteten. Sie werden weiter sagen, Dürers Naturgefühl müsse doch irgendwo eine
Lücke gehabt haben, unmöglich hätte er sonst Jahre darauf verwenden können,
solche Schemen auf dem Papier zu erzirkeln; wäre er wirklich von der Schönheit des
lebendigen Körpers ergriffen gewesen, so würde er statt dieser Gesellschaft von Glie-
dergruppen uns ein paar richtige Bilder hinterlassen haben. Und der Uneingeweihte
wird überhaupt geneigt sein, in all den theoretischen Bemühungen nur den Ausdruck
seniler Impotenz zu finden.
Der letzte Vorwurf ist mit den Tatsachen leicht zu widerlegen. Es sind gerade die
Perioden höchster Produktivität, wo Dürer mit dem Problem der Proportion ringt,
abgesehen von dem Hochgang schöpferischer Stimmung, der nach der niederlän-
dischen Reise das Buch flott machte, gravitiert das eine Maximum der Proportions-
studien um das Jahr 1503/04 und das andere um das Jahr 1512/13. Der große Unter-
schied zwischen Anfang und Fortführung ist aber der, daß die Konstruktionen an-
fänglich unmittelbar in künstlerische Gestalt sich umsetzen, während nach den (Ma-
drider) Tafeln von Adam und Eva, 1507, Theorie und Bildwerk definitiv getrennt
bleiben.
Es hieße Dürer völlig verkennen, wenn man glaubte, die Frage habe später wirklich
nur noch einen theoretischen, oder sagen wir anthropologischen, Wert für ihn ge-
habt. Das Problem der Schönheit ist nach wie vor das Zentralproblem der Kunst für
ihn. Wir bewundern ausschließlich seine Begabung für das Individuelle, die Kraft der
Charakteristik, mit der er dem Wirklichen zu Leibe ging, und man hat uns daran
gewöhnt, andere Forderungen an die Kunst überhaupt nicht mehr zu machen, für
Dürer war dies aber nur die eine Seite der Kunst, eigentlich nur die Vorbereitung
für die andere höhere Aufgabe: das Vollkommene zu gestalten. Dieses Vollkommene
ist für ihn in erster Linie der schöne Mensch, aber er hat auch über die Proportionen
des schönen Pferdes gearbeitet, und prinzipiell gibt es gar keine Schranke: er müßte
361
sichtbaren Kreaturen eine solch übermäßige Schönheit unserm Verstand, also daß
solche unser keiner kann vollkommen in sein Werk bringen.“
Daß die Figuren seines Proportionswerkes in der Natur wirklich genau so vorkämen,
will Dürer nicht behaupten. Es mögen auch noch Fehler in der Konstruktion sein,
daß sie von der Wahrheit und Schönheit des Möglichen abweichen: mag ein anderer
es besser machen. Den Ruhm aber glaubt er in Anspruch nehmen zu dürfen, daß er
der erste sei, der in deutschen Landen solche Dinge behandelt und daß er es ohne
Meister und Vorbild zustande gebracht habe.
3-
Moderne Kiinstler werden von der ganzen Proportionsgeschichte nicht viel wissen
wollen. Sie werden einwenden, daß es feststehende Maße fiir schöne Gestalten iiber-
haupt nicht geben könne, weil diese Maße je nach der Umgebung ihre Wirkung än-
derten, geschweige denn, daß sie in den verschiedenen Bewegungen des Modells sich
behaupteten. Sie werden weiter sagen, Dürers Naturgefühl müsse doch irgendwo eine
Lücke gehabt haben, unmöglich hätte er sonst Jahre darauf verwenden können,
solche Schemen auf dem Papier zu erzirkeln; wäre er wirklich von der Schönheit des
lebendigen Körpers ergriffen gewesen, so würde er statt dieser Gesellschaft von Glie-
dergruppen uns ein paar richtige Bilder hinterlassen haben. Und der Uneingeweihte
wird überhaupt geneigt sein, in all den theoretischen Bemühungen nur den Ausdruck
seniler Impotenz zu finden.
Der letzte Vorwurf ist mit den Tatsachen leicht zu widerlegen. Es sind gerade die
Perioden höchster Produktivität, wo Dürer mit dem Problem der Proportion ringt,
abgesehen von dem Hochgang schöpferischer Stimmung, der nach der niederlän-
dischen Reise das Buch flott machte, gravitiert das eine Maximum der Proportions-
studien um das Jahr 1503/04 und das andere um das Jahr 1512/13. Der große Unter-
schied zwischen Anfang und Fortführung ist aber der, daß die Konstruktionen an-
fänglich unmittelbar in künstlerische Gestalt sich umsetzen, während nach den (Ma-
drider) Tafeln von Adam und Eva, 1507, Theorie und Bildwerk definitiv getrennt
bleiben.
Es hieße Dürer völlig verkennen, wenn man glaubte, die Frage habe später wirklich
nur noch einen theoretischen, oder sagen wir anthropologischen, Wert für ihn ge-
habt. Das Problem der Schönheit ist nach wie vor das Zentralproblem der Kunst für
ihn. Wir bewundern ausschließlich seine Begabung für das Individuelle, die Kraft der
Charakteristik, mit der er dem Wirklichen zu Leibe ging, und man hat uns daran
gewöhnt, andere Forderungen an die Kunst überhaupt nicht mehr zu machen, für
Dürer war dies aber nur die eine Seite der Kunst, eigentlich nur die Vorbereitung
für die andere höhere Aufgabe: das Vollkommene zu gestalten. Dieses Vollkommene
ist für ihn in erster Linie der schöne Mensch, aber er hat auch über die Proportionen
des schönen Pferdes gearbeitet, und prinzipiell gibt es gar keine Schranke: er müßte