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DAS MARIENLEBEN

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ist, wie sie unabhängig vom Marienleben ein paar Jahre vorher angelegt wurde und jetzt
in der Albertina aufbewahrt wird. Das Blatt (L. 464, W. 224) hat in der leichten Feder-
führung und zarten Aquarellfärbung einen Reiz, den der Holzschnitt nicht ahnen läßt.
In dichtem Kreis umgibt die Menge das Paar. Von plastischer Isolierung keine Spur,
ja, Dürer sucht auf alle Weise den Eindruck zu erwecken, daß das Bild nur einen zu-
fälligen Ausschnitt der Wirklichkeit gebe. So sind die Überschneidungen der Rand-
figuren zu erklären und so das merkwürdige Motiv, daß der Mann hinter Joseph sehr
auffällig vom Vorgang wegschaut.
Der Hintergrund: eine spätgotische Bogentüre mit Einblick in das Kircheninnere, wo
Säulen und Gewölbe, alle unter einen Dämmerungston gebracht, malerisch wirkungs-
voll erscheinen. Die Orientierung ist aber unklar.
Die Verkündigung. — Es kann kein Zufall sein, daß Dürer hier den festlich-heiteren
Eindruck der großen Bogenfolgen italienischer Architektur aus der Erinnerung heran-
gerufen hat. Die Italiener selber haben um diese Zeit den Gruß des Engels gern in
Säulenhallen erklingen lassen. Dürers Raum ist nun freilich etwas unbehaglich und
frostig geworden, und mit der Komplikation der Deckenform, den Rundlöchern und
den Brettern auf den Kämpfergesimsen hat er die Sache nicht besser gemacht sondern
nur schlechter1), aber neben der Enge älterer Verkündigungsräume muß die grandiose
Weite dieser Bogen doch sehr feierlich gewirkt haben. Die Figuren sind hier besonders
klein im Raum.
Nach älterer Tradition — und es ist Schongauer, der wohl am feinsten die Verkündigung
durchempfunden hat — hebt nun der Engel leise den Vorhang, wo Maria betet, und beugt
das Knie und sagt, ohne nahe zu kommen, seinen Vers, während Maria den Kopf
wendet und mit gesenktem Auge hört; regelmäßig kommt ihr der Engel vom Rücken
her. Dürer läßt den Engel eilig heranlaufen, wie die Italiener das machten, und zwar
von der Seite her; er kleidet ihn antik und läßt die Beine unter dem leichten Rock
spüren, und nur in den hochgestellten kolossalen Flügeln ist er wieder deutsch. Maria
erhebt sich mit gekreuzten Armen dem Engel entgegen. Sie sitzt auch hier hinter einem
Vorhang, allein die gesammelte feine Stimmung der Schongauerschen Darstellung hat
sich ganz verflüchtigt.
Erst später (in der kleinen Holzschnittpassion) hat er der Geschichte ihre Stille und
Weihe zurückgegeben und ganz spät in einer Zeichnung vom Jahre 1526 (Chantilly,
L. 344, W. 894) nach einem großen Ausdruck für die Verkündigung gesucht.
Die Heimsuchung. — Maria ging auf das Gebirge, heißt es. Und wir bekommen eine
richtige Berglandschaft mit einem überraschenden Sonneneffekt. Eingefaßt von dunklen
Kulissen sieht man den Hang gegenüber in vollem Lichte schimmern. Selbst die Schatten
darin sind heller als der Himmel, und durch den Gegensatz zu der kräftigen Zeichnung
des Vordergrundes ist eine Wirkung erreicht, als ob in der Tat die Mittagssonne auf dem
fernen Gelände läge. So war die Absicht auch in der Apokalypse, wo Michael über der
hellen Erde in dunklen Wetterwolken kämpft, allein dort muß man erraten, was man
hier siehU).
 
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