3i4
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
tive der Hellerdraperien. Einfache
Umrisse, große Flächen, schlichte
langzügige Faltenthemen, womöglich
ins Geradlinige ausgerichtet, und das
Kleinwerk an die toten Punkte ge-
schoben, wo es der Hauptbewegung
nicht hinderlich ist. In Ermanglung
einer Zeichnung, die direkt das Pracht-
gefält der thronenden Maria uns-
res Heiligenbildes vergegenwärtigen
könnte, möge man mit dem Entwurf
zu einer lesenden Maria oder Anna
von 1521 (L. 575, W. 885) vorlieb-
nehmen, aus der der große Stil dieser
Zeit immerhin vernehmlich genug
spricht: es ist sehr groß gedacht, wie
die Frau im Schatten des über den
Kopf genommenen Manteltuch.es er
scheint, wie in einer Nische, und die
Formen des Ganzen ordnen sich zu
einer fast architektonisch einfachen
Wirkung zusammen. Die Geste der
rechten Hand ist der der thronenden
Maria nicht unähnlich: beidemal ist
es das unauffällige Aufsetzen der Fin-
ger auf die Fläche des offenen Buches1)- Wie grob war Dürers Empfindung noch,
als er in Venedig der Maria mit dem Zeisig (Berlin) das Buch in die Hand gab, und
wie unbegreiflich klingt es, daß er damals der Nachbar Giorgiones gewesen sei.
Eine zweite Gruppe von Zeichnungen weist auf ein Kreuzigungsbild, das ebenso-
wenig seine malerische Durchführung erlebt hat und in seiner Gesamtgestalt uns
nur durch einen Kupferstich bekannt ist. Früher war nur der Umrißstich P. 109
bekannt, über dessen Unzugehörigkeit zum Werke Dürers kein Zweifel besteht. Aber
1923 entdeckte Dodgson einen bis auf winzige Unterschiede täuschend ähnlichen, je-
doch älteren Konturstich, der, wenn er nicht von Dürers Hand um 1523 stammt,
doch wohl eine originale Skizze zur Grundlage hat2). Viel Spielraum ist der rekon-
struierenden Phantasie sowieso nicht gelassen: der Gekreuzigte ist aus der Zeich-
nung bekannt, Johannes und die Gruppe der Frauen. Für Magdalena am Fuße des
Kreuzes und für weinende Cherubs sind ebenfalls Naturstudien da3). Die umständliche
Sorgfalt dieser Vorbereitungen wie die Art der Zeichnungen lassen vermuten, daß
Dürer nicht einen bloßen Stich, sondern ein Bild im Sinne hatte. Ungewöhnlich ist
nur, daß Johannes dann links stehen bleibt und die Frauen von rechts kommen.
nHHHM
^ 3^ ■:
m
Lesende Frauenfigur. Wien, Albertina
DIE KUNST ALBRECHT DÜRERS
tive der Hellerdraperien. Einfache
Umrisse, große Flächen, schlichte
langzügige Faltenthemen, womöglich
ins Geradlinige ausgerichtet, und das
Kleinwerk an die toten Punkte ge-
schoben, wo es der Hauptbewegung
nicht hinderlich ist. In Ermanglung
einer Zeichnung, die direkt das Pracht-
gefält der thronenden Maria uns-
res Heiligenbildes vergegenwärtigen
könnte, möge man mit dem Entwurf
zu einer lesenden Maria oder Anna
von 1521 (L. 575, W. 885) vorlieb-
nehmen, aus der der große Stil dieser
Zeit immerhin vernehmlich genug
spricht: es ist sehr groß gedacht, wie
die Frau im Schatten des über den
Kopf genommenen Manteltuch.es er
scheint, wie in einer Nische, und die
Formen des Ganzen ordnen sich zu
einer fast architektonisch einfachen
Wirkung zusammen. Die Geste der
rechten Hand ist der der thronenden
Maria nicht unähnlich: beidemal ist
es das unauffällige Aufsetzen der Fin-
ger auf die Fläche des offenen Buches1)- Wie grob war Dürers Empfindung noch,
als er in Venedig der Maria mit dem Zeisig (Berlin) das Buch in die Hand gab, und
wie unbegreiflich klingt es, daß er damals der Nachbar Giorgiones gewesen sei.
Eine zweite Gruppe von Zeichnungen weist auf ein Kreuzigungsbild, das ebenso-
wenig seine malerische Durchführung erlebt hat und in seiner Gesamtgestalt uns
nur durch einen Kupferstich bekannt ist. Früher war nur der Umrißstich P. 109
bekannt, über dessen Unzugehörigkeit zum Werke Dürers kein Zweifel besteht. Aber
1923 entdeckte Dodgson einen bis auf winzige Unterschiede täuschend ähnlichen, je-
doch älteren Konturstich, der, wenn er nicht von Dürers Hand um 1523 stammt,
doch wohl eine originale Skizze zur Grundlage hat2). Viel Spielraum ist der rekon-
struierenden Phantasie sowieso nicht gelassen: der Gekreuzigte ist aus der Zeich-
nung bekannt, Johannes und die Gruppe der Frauen. Für Magdalena am Fuße des
Kreuzes und für weinende Cherubs sind ebenfalls Naturstudien da3). Die umständliche
Sorgfalt dieser Vorbereitungen wie die Art der Zeichnungen lassen vermuten, daß
Dürer nicht einen bloßen Stich, sondern ein Bild im Sinne hatte. Ungewöhnlich ist
nur, daß Johannes dann links stehen bleibt und die Frauen von rechts kommen.
nHHHM
^ 3^ ■:
m
Lesende Frauenfigur. Wien, Albertina