LEBENSGESCHICHTE
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Die vollkommene Darstellung ist hier zugleich eine Darstellung des Vollkommenen, und
Dürer ist der erste Nordländer, der das Problem so gestellt hat.
Es ist von Wichtigkeit für ihn geworden, daß damals ein venetianischer Maler in Deutsch-
land war, Jacopo de’ Barbari, mit dem er in näheren Verkehr trat. Künstlerisch nur
ein Talent dritten Ranges und überhaupt keine selbständige Natur, besaß dieser Mann
aus seiner italienischen Schule doch Kenntnisse, die ihn schätzenswert machten, und
er scheint es verstanden zu haben, sich als Verwalter tiefer Geheimnisse zu geben. Der
Anstoß, nach den gesetzmäßigen Proportionen zu suchen, kam zugestandenermaßen
von dieser Seite. Dürer klagt aber, daß er ihm keine rechte Aufklärung habe geben
wollen. Tatsache ist, daß der Begriff von italienischer Bewegungsschönheit sich gleich-
zeitig mit den neuen Maßproblemen deutlicher für ihn bestimmt. Es müssen Zeich-
nungen berühmter Antiken in seinen Gesichtskreis gekommen sein. Der Stich von
,,Adam und Eva“, 1504, ist auch dafür das bezeichnende Beispiel.
Ein Jahr später ging Dürer zum zweitenmal über die Alpen. Was immer für seinen
Entschluß bestimmend war, wir dürfen sagen: Italien fiel ihm jetzt als reife Frucht in
den Schoß.
Und trotzdem: so ruhig und gleichmäßig hat der Kompaß seiner künstlerischen Ent-
wicklung nicht nach einem Punkt gezeigt. Er war nicht der Romanist, für den es nichts
anderes gab als italienische Figur; die Jahre vor 1505 sind ebensosehr eine Vertiefung
ins Heimatlich-Nahe als eine Ausschau nach dem Fremden und Neuen. Wie hätte sonst
das ,,Marienleben“ damals entstehen können? Und unmittelbar neben dem Stich von
,,Adam und Eva“ finden wir den weiblichen Akt des ,,großen Glückes“ mit seiner un-
endlichen Individualisierung eines nordischen Modells und andrerseits jenes allerliebste
Blatt der Geburt Christi im Hof, das unter dem Namen ,,Weihnachten“ bekannt ist und
in seiner malerischen Anlage, wo die Figuren neben dem Reiz des Raumes ganz zur
Nebensache werden, bereits auf eine spätere Stufe der germanischen Kunst hinweist.
Gerade damals kommt bei Dürer ein Gefühl für das Intime zum Vorschein, für den
Wert der deutschen Kleinlandschaft, er bleibt so beschaulich-verweilend vor den Dingen
stehen, daß man eigentlich eine ganz andere Entwicklung erwartet, als die nächsten
Jahre sie bringen. Es ist vielleicht der interessanteste Moment in seinem Leben. Zwei
Richtungen kämpfen miteinander. Mit den Begriffen malerisch und plastisch ist der
Gegensatz nur unvollkommen bezeichnet, es handelt sich in letzter Linie um germa-
nische und romanische Kunstanschauung.
Daß die nationalen Elemente zunächst nicht weiter ausgebildet wurden, wird man als
eine Folge der großen italienischen Reise auffassen müssen. Freunde der ,,Heimat-
kunst“ mögen beklagen, daß sie gemacht wurde, und doch hätte die Entwicklung der
Dinge in Deutschland, wie sie kam, auch durch Dürer nicht aufgehalten werden können.
Von allen Punkten aus haben die Deutschen dem Süden zugedrängt, und die nordische
Kunst, bevor sie zum Eigenen gelangen durfte, hat erst einmal eine Schule des pla-
stischen Denkens und der tektonisch-strengen Form bei den Italienern durchmachen
müssen.
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Die vollkommene Darstellung ist hier zugleich eine Darstellung des Vollkommenen, und
Dürer ist der erste Nordländer, der das Problem so gestellt hat.
Es ist von Wichtigkeit für ihn geworden, daß damals ein venetianischer Maler in Deutsch-
land war, Jacopo de’ Barbari, mit dem er in näheren Verkehr trat. Künstlerisch nur
ein Talent dritten Ranges und überhaupt keine selbständige Natur, besaß dieser Mann
aus seiner italienischen Schule doch Kenntnisse, die ihn schätzenswert machten, und
er scheint es verstanden zu haben, sich als Verwalter tiefer Geheimnisse zu geben. Der
Anstoß, nach den gesetzmäßigen Proportionen zu suchen, kam zugestandenermaßen
von dieser Seite. Dürer klagt aber, daß er ihm keine rechte Aufklärung habe geben
wollen. Tatsache ist, daß der Begriff von italienischer Bewegungsschönheit sich gleich-
zeitig mit den neuen Maßproblemen deutlicher für ihn bestimmt. Es müssen Zeich-
nungen berühmter Antiken in seinen Gesichtskreis gekommen sein. Der Stich von
,,Adam und Eva“, 1504, ist auch dafür das bezeichnende Beispiel.
Ein Jahr später ging Dürer zum zweitenmal über die Alpen. Was immer für seinen
Entschluß bestimmend war, wir dürfen sagen: Italien fiel ihm jetzt als reife Frucht in
den Schoß.
Und trotzdem: so ruhig und gleichmäßig hat der Kompaß seiner künstlerischen Ent-
wicklung nicht nach einem Punkt gezeigt. Er war nicht der Romanist, für den es nichts
anderes gab als italienische Figur; die Jahre vor 1505 sind ebensosehr eine Vertiefung
ins Heimatlich-Nahe als eine Ausschau nach dem Fremden und Neuen. Wie hätte sonst
das ,,Marienleben“ damals entstehen können? Und unmittelbar neben dem Stich von
,,Adam und Eva“ finden wir den weiblichen Akt des ,,großen Glückes“ mit seiner un-
endlichen Individualisierung eines nordischen Modells und andrerseits jenes allerliebste
Blatt der Geburt Christi im Hof, das unter dem Namen ,,Weihnachten“ bekannt ist und
in seiner malerischen Anlage, wo die Figuren neben dem Reiz des Raumes ganz zur
Nebensache werden, bereits auf eine spätere Stufe der germanischen Kunst hinweist.
Gerade damals kommt bei Dürer ein Gefühl für das Intime zum Vorschein, für den
Wert der deutschen Kleinlandschaft, er bleibt so beschaulich-verweilend vor den Dingen
stehen, daß man eigentlich eine ganz andere Entwicklung erwartet, als die nächsten
Jahre sie bringen. Es ist vielleicht der interessanteste Moment in seinem Leben. Zwei
Richtungen kämpfen miteinander. Mit den Begriffen malerisch und plastisch ist der
Gegensatz nur unvollkommen bezeichnet, es handelt sich in letzter Linie um germa-
nische und romanische Kunstanschauung.
Daß die nationalen Elemente zunächst nicht weiter ausgebildet wurden, wird man als
eine Folge der großen italienischen Reise auffassen müssen. Freunde der ,,Heimat-
kunst“ mögen beklagen, daß sie gemacht wurde, und doch hätte die Entwicklung der
Dinge in Deutschland, wie sie kam, auch durch Dürer nicht aufgehalten werden können.
Von allen Punkten aus haben die Deutschen dem Süden zugedrängt, und die nordische
Kunst, bevor sie zum Eigenen gelangen durfte, hat erst einmal eine Schule des pla-
stischen Denkens und der tektonisch-strengen Form bei den Italienern durchmachen
müssen.