GRUNDLAGEN UND ANFÄNGE
45
Großen und Starken, aber durch Mantegna ist ihm der Weg abgekürzt worden. Was in
seiner Natur war an großer Anschauung und großer Empfindung, wurde durch Man-
tegna frei. Eine ganz organische Entwicklung ist es allerdings nicht gewesen. Wie es
in solchen Fällen immer geschieht: mit dem fertigen Vorbild kam auch Unverstandenes
und Unverständliches mit herüber, Elemente, die sich in der deutschen Kunst nie ganz
auflösen konnten.
Wir sind von Jugend auf so sehr an die verschiedenartigste Kunst gewöhnt, daß es
einer besonderen Anstrengung bedarf, sich den Eindruck zu vergegenwärtigen, den
Mantegna und die italienische Kunst iiberhaupt auf einen unvorbereiteten nordischen
Menschen mit spätgotischer Sehgewöhnung machen mußte. Dürer riihmt noch spät als
die eigentlichen Vorziige der Italiener vor den Deutschen: die Kenntnis des Nackten
und der Perspektive. Wahrscheinlich sind es diese Dinge gewesen, die von Anfang an
ihm als die wertvollsten und begehrenswertesten erschienen. Er mußte getroffen sein
von der „sichern Gegenwart“ mantegnesker Gestalten. Die vollkommene Klarheit der
räumlichen Verhältnisse war ihm ebenso neu wie die organisch einheitliche Darstellung
des menschlichen Körpers. Wie diese Menschen im Raum drin standen! Wie die Sohle
am Boden haftete, und wie das Gewicht des Körpers sich fühlbar machte! Und was
für Körper das waren und was für Bewegungen! Die Körper nicht nur anders pro-
portioniert, sondern unter andern Linien gesehen, mit horizontalen Teilungen, die das
gotische Auge nicht kannte, und in den Bewegungen ein vollkommen anderer Rhyth-
mus, Stehbein und Spielbein mit kontrastierenden Schiebungen der oberen Glieder und
energischen Wendungen des Kopfes. Das alles gegeben in einem monumental-ein-
fachen Stil und getragen von einer Empfindung für das Grandiose, die bis zum stärksten
Ausdruck der Leidenschaft emporsteigt, aber auch das einfache Dasein schon heroisch
verklärt.
3-
Wenn es als das besondere Merkmal des künstlerischen Menschen überhaupt gilt, daß
ihm von früh an die Dinge der Welt in ihrer ganzen Tiefe und Fülle und als etwas Un-
erschöpfliches erscheinen, so kann man sich bei Dürer den Trieb gar nicht drängend
genug vorstellen, zu sehen und das Gesehene zu gestalten. Er muß sich — ich wiederhole
das Wort — von der Darstellungswürdigkeit und der Darstellungsmöglichkeit der Natur
sehr bald seine eigenen neuen Begriffe gebildet haben. Die Gegenstände im Raum sprachen
stärker zu ihm, als daß er sich mit den überlieferten Ausdrucksformeln irgendwie hätte
zufrieden geben können, und für das individuelle Leben brachte er ein Gefühl mit, das
alle bisherigen Fassungen nur als ganz ungefähre Andeutung gelten lassen konnte.
Selbstverständlich ist gerade von den Anfangsarbeiten sehr vieles untergegangen.
Allein, wenn auch im einzelnen nicht alles aufgeklärt werden mag, so besitzen wir doch
Zeugnisse genug, um im allgemeinen zu erkennen, wie sich Dürers Art entwickelte,
wie er auf die Eindrücke von Kunst und Natur antwortete und wie er sein Schifflein
durch die Strudel und Stromschnellen der Jugend hindurchgebracht hat.
45
Großen und Starken, aber durch Mantegna ist ihm der Weg abgekürzt worden. Was in
seiner Natur war an großer Anschauung und großer Empfindung, wurde durch Man-
tegna frei. Eine ganz organische Entwicklung ist es allerdings nicht gewesen. Wie es
in solchen Fällen immer geschieht: mit dem fertigen Vorbild kam auch Unverstandenes
und Unverständliches mit herüber, Elemente, die sich in der deutschen Kunst nie ganz
auflösen konnten.
Wir sind von Jugend auf so sehr an die verschiedenartigste Kunst gewöhnt, daß es
einer besonderen Anstrengung bedarf, sich den Eindruck zu vergegenwärtigen, den
Mantegna und die italienische Kunst iiberhaupt auf einen unvorbereiteten nordischen
Menschen mit spätgotischer Sehgewöhnung machen mußte. Dürer riihmt noch spät als
die eigentlichen Vorziige der Italiener vor den Deutschen: die Kenntnis des Nackten
und der Perspektive. Wahrscheinlich sind es diese Dinge gewesen, die von Anfang an
ihm als die wertvollsten und begehrenswertesten erschienen. Er mußte getroffen sein
von der „sichern Gegenwart“ mantegnesker Gestalten. Die vollkommene Klarheit der
räumlichen Verhältnisse war ihm ebenso neu wie die organisch einheitliche Darstellung
des menschlichen Körpers. Wie diese Menschen im Raum drin standen! Wie die Sohle
am Boden haftete, und wie das Gewicht des Körpers sich fühlbar machte! Und was
für Körper das waren und was für Bewegungen! Die Körper nicht nur anders pro-
portioniert, sondern unter andern Linien gesehen, mit horizontalen Teilungen, die das
gotische Auge nicht kannte, und in den Bewegungen ein vollkommen anderer Rhyth-
mus, Stehbein und Spielbein mit kontrastierenden Schiebungen der oberen Glieder und
energischen Wendungen des Kopfes. Das alles gegeben in einem monumental-ein-
fachen Stil und getragen von einer Empfindung für das Grandiose, die bis zum stärksten
Ausdruck der Leidenschaft emporsteigt, aber auch das einfache Dasein schon heroisch
verklärt.
3-
Wenn es als das besondere Merkmal des künstlerischen Menschen überhaupt gilt, daß
ihm von früh an die Dinge der Welt in ihrer ganzen Tiefe und Fülle und als etwas Un-
erschöpfliches erscheinen, so kann man sich bei Dürer den Trieb gar nicht drängend
genug vorstellen, zu sehen und das Gesehene zu gestalten. Er muß sich — ich wiederhole
das Wort — von der Darstellungswürdigkeit und der Darstellungsmöglichkeit der Natur
sehr bald seine eigenen neuen Begriffe gebildet haben. Die Gegenstände im Raum sprachen
stärker zu ihm, als daß er sich mit den überlieferten Ausdrucksformeln irgendwie hätte
zufrieden geben können, und für das individuelle Leben brachte er ein Gefühl mit, das
alle bisherigen Fassungen nur als ganz ungefähre Andeutung gelten lassen konnte.
Selbstverständlich ist gerade von den Anfangsarbeiten sehr vieles untergegangen.
Allein, wenn auch im einzelnen nicht alles aufgeklärt werden mag, so besitzen wir doch
Zeugnisse genug, um im allgemeinen zu erkennen, wie sich Dürers Art entwickelte,
wie er auf die Eindrücke von Kunst und Natur antwortete und wie er sein Schifflein
durch die Strudel und Stromschnellen der Jugend hindurchgebracht hat.