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Woermann, Karl; Woermann, Karl [Contr.]
Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (Band 2): Die Kunst der Naturvölker und der übrigen nichtchristlichen Kulturvölker, einschliesslich der Kunst des Islams — Leipzig: Bibliograph. Inst., 1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.66390#0131
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Die germanische Völkerwanderungs- und Wikingerkunst.

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am reinsten bewahrten, nach ihren künstlerischen Arbeiten um, so fällt uns sofort eine weit-
gehende Übereinstimmung der Zierformen auf, mit denen sie die Werke ihrer Hand schmückten.
Es fragt sich nur, wie weit dieser Formenschatz als germanischer Sonderbesitz und wie weit er
als allgemeiner, entweder durch die spätrömische, im oströmischen Reiche weilerentwickelte oder
durch die mesopotamisch-iranische, namentlich sassanidische Formensprache bedingter Zeitbesitz an-
zusehen ist. An der Erörterung dieser Frage hatten beim Erscheinen der erstell Auflage dieses
Buches im spätrömischen Sinne namentlich Forscher wie Labarte und Söderberg, im ger-
manischen Sinne unter anderen Lasteyrie, Lindenschmit und Seesselberg, vorsichtig ausgleichend
Gelehrte wie Salomon Reinach, Julius Naue, Karl Lamprecht, Paul Clemen, Oskar Monte-
lius und Sophus Müller teilgenommen. In den letzten fünfzehn Jahren hat sie durch die
Schriften von Riegl, Salin, Otto v. Falke, Schmarsow, Strzygowski, Kossinna und Haupt
vielfach ein anderes Ansehen gewonnen. Uns erscheint es, um dies gleich zu sagen, ebenso
unwahrscheinlich, daß die Germanen, die in Südrußland mit der skythisch-griechischen Kunst,
im Westen überall mit der römischen Provinzialkunst in Berührung gekommen waren, nicht
manches von diesen Ausläufern der klassischen und
von der herrschenden sassanidischen Kunst angenom-
men haben sollten, wie daß sie nicht imstande ge-
wesen wären, aus sich selbst heraus die fast allen
Naturvölkern gemeinsamen und schon denUrvölkern
bekannt gewesenen Verzierungsarten zu erzeugen,
zu denen wir auch die Flechtmuster und die Tier-
kopfendungen rechnen. Wir werden vergleichen
und unterscheiden müssen.
Daß sich innerhalb der weiten Gebiete dieser
Kunstübung gewisse Stilunterschiede bemerkbar-
machen, versteht sich von selbst. Es ist begreiflich
genug, daß die Kunst der Südgermanen, über die
in den vorhergehenden Jahrhunderten bereits die La-Tene-Kunst (Bd. 1, S. 429) und die
römische Provinzialkunst (Bd. 1, S. 513) hinweggegangen waren, reichlichere klassische Erinne-
rungen verarbeitete als die entlegenere nordgermanische, namentlich die skandinavische Kunst,
die in höherem Grade auf sich selbst angewiesen war. Aber die ostgotische, die westgotische, die
burgundische, die alemannische und die merowingisch-fränkische Kunst voneinander unterscheiden
zu wollen, ist, wie auch Salin meint, noch verfrüht. Wir müssen uns in bezug auf die eigentliche
germanische Zierknnst begnügen, nordgermanische Eigenzüge den südgermanischen gegenüber-
zustellen. Auf die ganze langobardische Kunst, die erst als christliche Kunst in unseren Gesichts-
kreis tritt, können wir, wie auf die christliche Kunst der Ostgoten in Italien und der Westgoten
in Spanien, erst im nächsten Bande eingehen. So gut die frühe christliche Kunst sich in der
hellenistisch-römischen Welt der in dieser überlieferten Formensprache bediente, paßte sie sich auch
im Bereiche der germanischen Völkerwanderung der hier üblichen Ausdrucksweise an. Hier haben
wir es nur mit den heidnischen Grundlagen dieser Zierkunst zu tun, die sich im skandinavischen
Norden, der am längsten heidnisch blieb, in selbständigster Weiterentwickelung auslebte.
Außerhalb der Klein- und Zierkunst hat sich nur äußerst wenig von der vorchristlichen
Völkerwanderungs- und Wikingerkunst erhaltem Heidnische Göttertempel hat es, wie es scheint,
in den späteren Jahrhunderten dieses Zeitraumes wenigstens im skandinavischen Norden gegeben.


Abb. 100. Grundriß eines schwedischen Wikinger-
wohnhauses. Nach Montelius. (Zu S. 100.)
 
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