350 Drittes Buch. Die Kunſt der erſten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien.
Baukunſt aber ſteht die Bildnerei der Kapelle. Die Wände hinter den Grabmälern wirken wie
Beſtandteile von dieſen. Die Idealgeſtalten der beiden Herrſcher thronen über ihren Sarkophagen
in Wandniſchen, die von Doppelpilaſtern eingefaßt ſind. Unbedeckten Hauptes blickt Giuliano,
der lauernd, mit dem Feldherrnſtab auf den Knieen, daſitzt, zur Seite (Abb. 193). Mit dem
Helm auf dem Haupte, das Kinn mit der Linken ſtützend, ſitzt Lorenzo, „i pensoso“, in Ge-
danken verſunken da (Abb. 194). Wuchtiger und bewegter noch als ſie aber erſcheinen die
nackten Geſtalten der vier Tageszeiten, die auf den e Sarkophagdeckeln lagern:
auch ſie, wie Brockhaus gezeigt
hat, kirchliche, ſchon in einer
ambroſianiſchen Hymne ver-
wertete, übrigens bereits in
helleniſtiſchen Gräbern vor-
gebildete Sinnbilder, auch ſie
ihrer künſtleriſchen Abſicht nach
aber zunächſt nur Schmuck-
geſtalten, die ihrer Linienwir-
kung wegen da ſind. Vermöge
ſeiner anatomiſchen Kenntniſſe
gelang es Michelangelo, gerade
in dieſen Geſtalten die Be-
wegungsfähigkeit der Glied-
maßen bis zu ihrer äußerſten
Grenze auszunutzen und die
mächtigen Leiber durch die
Richtungsgegenſätze ihrer Be-
wegungsmotive ſeeliſch zu be-
leben. Aber wie wahr auch zu-
gleich wirkt das müde Hinſinken
im „Crepusculo“, das ſchwere
Abb. 193. Michelangelos Grabmal Giulianos de“ Medici i 0 . 1 „Aurora 5
Lorenzo zu 55 enz Rach daga on G. Brogi 5 Florenz. Füßen Lorenzos, die tatkräftige
Bewegung in dem unvollen-
deten „Tag“ und die Bewußtloſigkeit des tiefen, aber nicht traumloſen Schlafes in der be-
rühmten „Nacht“ zu Füßen Giulianos. Und bei aller Beweglichkeit wie köſtlich die Ruhe, mit
der dieſe Geſtalten ſich hüben und drüben mit den Herrſcherbildern zu klaſſiſchem Aufbau ver-
binden! Als Bildwerke Michelangelos von räumlich geſchloſſener Wucht ihrer ſtarken Bewegung
reihen ſich hier der in ſich zuſammengekauerte Jüngling der Ermitage in Petersburg und der
junge Mann des Bargello ein, der wohl eher als David, der nach ſeinem Stein, denn als
Apollo, der nach ſeinem Pfeil greift, zu deuten iſt. Welcher Abſtand der Auffaſſung aber von
jenem Jugend⸗David des Meiſters zu dieſer Verkörperung ſeines entwickelten Eigenſtils! Frühe-
ſtens dieſer Zeit gehört auch die ſchwerlich fürs Juliusdenkmal beſtimmt geweſene kühn auf-
gebaute Gruppe des „Sieges“ im Bargello (Abb. 195) an, die ganz von Michelangelos
Bewegungsdrang innerhalb ſtreng kubiſchen Blockgefühls erfüllt iſt: ein ſieghaft ſchöner
Jüngling, dem ein Alter ſich unters Knie beugt. Als Tafelbild Michelangelos aus dieſer
Baukunſt aber ſteht die Bildnerei der Kapelle. Die Wände hinter den Grabmälern wirken wie
Beſtandteile von dieſen. Die Idealgeſtalten der beiden Herrſcher thronen über ihren Sarkophagen
in Wandniſchen, die von Doppelpilaſtern eingefaßt ſind. Unbedeckten Hauptes blickt Giuliano,
der lauernd, mit dem Feldherrnſtab auf den Knieen, daſitzt, zur Seite (Abb. 193). Mit dem
Helm auf dem Haupte, das Kinn mit der Linken ſtützend, ſitzt Lorenzo, „i pensoso“, in Ge-
danken verſunken da (Abb. 194). Wuchtiger und bewegter noch als ſie aber erſcheinen die
nackten Geſtalten der vier Tageszeiten, die auf den e Sarkophagdeckeln lagern:
auch ſie, wie Brockhaus gezeigt
hat, kirchliche, ſchon in einer
ambroſianiſchen Hymne ver-
wertete, übrigens bereits in
helleniſtiſchen Gräbern vor-
gebildete Sinnbilder, auch ſie
ihrer künſtleriſchen Abſicht nach
aber zunächſt nur Schmuck-
geſtalten, die ihrer Linienwir-
kung wegen da ſind. Vermöge
ſeiner anatomiſchen Kenntniſſe
gelang es Michelangelo, gerade
in dieſen Geſtalten die Be-
wegungsfähigkeit der Glied-
maßen bis zu ihrer äußerſten
Grenze auszunutzen und die
mächtigen Leiber durch die
Richtungsgegenſätze ihrer Be-
wegungsmotive ſeeliſch zu be-
leben. Aber wie wahr auch zu-
gleich wirkt das müde Hinſinken
im „Crepusculo“, das ſchwere
Abb. 193. Michelangelos Grabmal Giulianos de“ Medici i 0 . 1 „Aurora 5
Lorenzo zu 55 enz Rach daga on G. Brogi 5 Florenz. Füßen Lorenzos, die tatkräftige
Bewegung in dem unvollen-
deten „Tag“ und die Bewußtloſigkeit des tiefen, aber nicht traumloſen Schlafes in der be-
rühmten „Nacht“ zu Füßen Giulianos. Und bei aller Beweglichkeit wie köſtlich die Ruhe, mit
der dieſe Geſtalten ſich hüben und drüben mit den Herrſcherbildern zu klaſſiſchem Aufbau ver-
binden! Als Bildwerke Michelangelos von räumlich geſchloſſener Wucht ihrer ſtarken Bewegung
reihen ſich hier der in ſich zuſammengekauerte Jüngling der Ermitage in Petersburg und der
junge Mann des Bargello ein, der wohl eher als David, der nach ſeinem Stein, denn als
Apollo, der nach ſeinem Pfeil greift, zu deuten iſt. Welcher Abſtand der Auffaſſung aber von
jenem Jugend⸗David des Meiſters zu dieſer Verkörperung ſeines entwickelten Eigenſtils! Frühe-
ſtens dieſer Zeit gehört auch die ſchwerlich fürs Juliusdenkmal beſtimmt geweſene kühn auf-
gebaute Gruppe des „Sieges“ im Bargello (Abb. 195) an, die ganz von Michelangelos
Bewegungsdrang innerhalb ſtreng kubiſchen Blockgefühls erfüllt iſt: ein ſieghaft ſchöner
Jüngling, dem ein Alter ſich unters Knie beugt. Als Tafelbild Michelangelos aus dieſer