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Woermann, Karl
Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (5. Band): Die Kunst der mittleren Neuzeit von 1550 bis 1750 (Barock und Rokoko) — Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.67364#0260
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208 Zweites Buch. II. Die englische Kunst von 1550 bis 1750.

muß man zugeben, daß die englische Baukunst, gleich zu Anfang des 17. Jahrhunderts der
unwiderstehlichen Zeitströmung folgend, die nationalen Überlieferungen zugunsten einer ge-
schickten, ja groß empfundenen Nachahmung der halb klassizistischen, halb barocken Spätrenaissance
der Italiener und Franzosen preisgab und die neue, fremde Formensprache rasch ihren eigenen
kirchlichen und weltlichen Bedürfnisseil anpassen lernte. Aber neben der klassizistischen Spät-
reuaissanceströmung setzt in England während des ganzen 17. Jahrhunderts auch die gotische
Unterströmung noch keineswegs aus. Vlomfield hat sie eingehend geschildert. Charakteristisch
ist die Johanniskirche in Leeds (k 632—33), eine zweischiffige, durch Spitzbogenarkaden ge-
teilte Kirche mit offenem Dachstuhl, deren Steinmetzarbeiten spätgotisch sind, während ihre
Zimmermannsarbeiten an die Formensprache der
„deutschen Renaissance" erinnern. Noch ziemlich
reine Spätgotik tritt uns auch in Wadham College
(1610—13) und in dem schönen Treppenhause
von Christ Church College (1640) in Oxford ent-
gegen, wogegeil die (umgebaute) Kirche Saint Ca-
therine Cree in London (1628) und namentlich die
Kapelle von Brasenose College in Oxford (1666),
deren breite gotische Maßwerkfenster durch korin-
thische Pilaster volleinander getrennt werden, einen
ausgeprägten Mischstil zeigen.
Selbst die beiden großen englischen Haupt-
architekten dieses Jahrhunderts, von dellen Inigo
Jones dem vorrepublikanischen, Sir Christopher
Wren dem nachrepublikanischen England dienten,
konnten sich im Kirchenbau leichter gotischer Rück-
fälle nicht erwehren.
Gleich mit Inigo Jones (1573—1651), der
1604, wie es heißt, über Dänemark voll Italien
nach London zurückgekehrt war, aber erst 1615
„General Survepor of the works" wurde, begann
der Umschwung. Wenn man Jingo Jones (1573—1651) als den Shakespeare der englischen
Baukunst feiert, so unterschätzt man die Weltwirkung des großen Dramatikers. Aber ein
tüchtiger Meister in den Bahnen Serlios (S. 7), Vignolas (S. 10) uud Palladios (S. 15),
die er in Italien studiert hatte, war Jones in der Tat. Als sein einziges gotisches Bauwerk
gilt die Lincoln's-Jnn-Kapelle in London, die 1623 geweiht wurde. Seine Hauptschöpfungen
waren die Entwürfe zu dell Kölligspalästen in Greenwich (seit 1617) und Whitehall (seit 1619).
Jene kamen, abgesehen voll der klassisch-einfachen Villa der Königin (1635), erst später durch
Wren und dessen Nachfolger, die großartigen, teils im Worcester College in Oxford, teils in
Chatsworth beim Duke of Devonfhire erhaltenen Entwürfe für Whitehall, das mit feinen
sieben, noch völlig von mächtigen Gebäudeflüchten eingeschlossenen Niesenhöfen das größte
Schloß der Welt geworden wäre, aber kamen niemals vollständig zur Ausführung. Aus-
geführt und erhalten ist nur die Festhalle, das Vanqueting House (Abb. 105), dessen Decken-
gemälde (S. 256—257) voll Rubens herrühren. Es ist ein zweigeschossiger, unten durch ionische,
oben durch korinthische Pilaster und Halbsäulen gegliederter Prachtbau, der auch in Venedig

Abb. 104. Kamin in Cobham (Kent). Nach
N. Blomfisld, a. a. O.
 
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