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Woermann, Karl; Woltmann, Alfred [Hrsg.]; Woermann, Karl [Hrsg.]
Geschichte der Malerei (Band 3,2) — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1888

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https://doi.org/10.11588/diglit.48522#0102
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630 Sechstes Buch. II. Abtheilung. Zweiter Abfchnitt.
fchaftlichen Natur, der Verbindung von Erdreich, Waffer, Bäumen — und Luft
und Licht, dafs fie uns ftets unmittelbar packend und naturwahr entgegen-
treten, und dafs die Uebergänge zwifchen feinen offenkundig wirklichen Gegen-
den entlehnten Landfchaften und feinen der Künfllerphantafie entfprungenen
Bildern fo kunflvoll verwifcht find, dafs die Grenzen kaum zu ziehen find und
nur die an den Endpunkten beider Gattungen flehenden Bilder wirkliche
Reahsmus Gegenfätze bilden. Gewifs ift auch Ruisdael durch und durch Haarlemer Realift.
Seine pje Bäume, welche feine Lieblinge waren, hat keiner vor ihm auch nur an-
nähernd fo lebenswahr aufgefafst und fo naturgetreu mit ängftlicher Vermei-
dung jedes conventionellen »Baumfchlags« wiedergegeben wie er. Sein Baum-
laub, feine Baumflämme, feine entblätterten Aefte fehen in Formen und Farben
fo aus, wie fie unter dem Einfluffe der nordifchen Atmofphäre und der nor-
difchen Jahreszeiten in Wirklichkeit erfcheinen. Sie treten uns, obgleich fie
oder weil fie mit rein malerifchen Mitteln auf die Fläche gebannt find, doch
in plaffifcher Rundung und Fülle, in faftiger, tiefer, fatter Färbung entgegen.
Erdboden Nicht minder natur wahr geftaltet er das Erdreich mit feinen Felfen, feinen
Sanddünen, feinen Wegen. Sein Auge geht jeder zufälligen Linie, jeder Ton-
abftufung nach; und willig folgt fein Pinfel feinem Auge. Und wie mit
Sein Waffer. dem Erdreich und mit den Bäumen, fo hält er es auch mit dem Waffer,
deffen ftillen grauen Glanz und deffen hellen Schaum er meifterhaft wieder-
zugeben verfteht; vor allen Dingen aber mit der Luft. Auch in der Wieder-
Seine Luft, gäbe der Luft ift er zunächfl ein erflaunlicher Realift; wohl niemals, weil es
für die nordifche Natur nicht charakteriftifch ift, hat er einen ganz blauen
Himmel gemalt; wie er aber die grauen, weifsgerändeten Wolken in ihrem
leichten, luftigen Weben beobachtet, wie er fie fich zu Sturm- und Gewitter-
wolken ballen fieht, wie er hier und da ein Stück fein hellblauen Himmels oder
gar wirkliche helle Sonnenftrahlen das Wolkengrau durchbrechen und an den
Stämmen des Waldes fpielen oder weite Stellen der Ebene beleuchten läfst,
wie er die Luft im Vordergründe kühl durchfichtig fpielen zu laffen, im Hinter-
gründe aber die Höhen manchmal in ein tiefes, fattes Ferneblau zu kleiden
weifs, alles das ift fo natürlich, fo wahr, fo realiftifch wie möglich; und doch
zeigt er fich auch bei den einfachften Darftellungen diefer Art durch die Fein-
heit der malerifchen Anordnung und Abtönung und durch die bewufste Ver-
einigung aller diefer Elemente zur Erzeugung der feelifchen Stimmungen, welche
meift ernft, fchwermüthig, weltfchmerzlich find, wie fein Leben fie in ihm wach-
Difekierfie r^e^’ lmmer zugleich als der Künftler in höherem, geiftigerem Sinne. Es ruht
Auffaffung. ein poetifcher Zauber auf feinen, wenn nicht immer im Ganzen, fo doch flets
im Einzelnen realiftifch durchgeführten Landfchaften, wie auf den Bildern keines
zweiten Landfchaftsmalers der Welt1); und in einzelnen feiner auch ihrer Grund-
lage nach phantaftifchen Bilder erreicht er eine Höhe und Tiefe der Natur-
poefie, wie fie auch kein Dichter je in Verfe gefafst hat. Seine grofsartigfte
Leiftung diefer Art auf dem gefammten Gebiete der Landfchaftsmalerei ift fein
Skirchhof.n »Judenkirchhof« in der Dresdener Galerie. Ihn zu zergliedern, ift lehrreich für

i) Allen Freunden des Meillers kann nicht dringend genug empfohlen werden, Goethe's Auffatz
»Ruisdael als Dichter« immer wieder zu lefen.
 
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