Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


DER BAUGEDANKE DER GOTIK

Gegensatz von klassischem Bauorganismus und gotischem
Bausystem wird zu dem Gegensatz eines lebendig atmenden
Körpers und eines Skeletts.
Die griechische Architektur ist angewandte Konstruktion,
die gotische ist Konstruktion an sich. Das Konstruktive ist
dort nur Mittel zum praktischenZweck, hier ist es Selbstzweck,
denn es deckt sich mit der künstlerischen Ausdrucksabsicht.
Weil in der abstrakten Sprache konstruktiver Beziehungen
sich das gotische Ausdrucksverlangen aussprechen konnte,
wird die Konstruktion über ihren praktischen Zweck weit
hinaus um ihrer selbst willen getrieben. In diesem Sinne könnte
man die gotische Architektur als eine gegenstandslose Kon-
struktionswut bezeichnen, denn sie hat kein direktes Objekt,
keinen direkten praktischen Zweck, nur dem künstlerischen
Ausdruckswillen dient sie. Und das Ziel dieses gotischen
Ausdruckswillens kennen wir: es ist das Verlangen, aufzugehen
in einer unsinnlichen, mechanischen Bewegtheit stärkster
Potenz. Wir werden später bei der Betrachtung der Scho-
lastik, dieser Parallelerscheinung zur gotischen Architektur,
sehen, wie auch sie den gotischen Ausdruckswillen getreu
widerspiegelt. Auch hier ein Uebermass konstruktiver Spitz-
findigkeit ohne direktes Objekt, nämlich ohne Erkenntnis- ,
zweck — denn die Erkenntnis ist ja durch die geoffenbarte
Wahrheit der Kirche und des Dogmas schon festgelegt —, auch
hier ein Uebermass konstruktiver Spitzfindigkeit, das keinem
andern Zwecke dient, als der Schaffung einer sich ununter-
brochen steigernden unendlichen Bewegtheit, in der sich der
Geist wie in einem Rausche verliert. Hier wie dort derselbe
logische Wahnsinn, derselbe Wahnsinn mit Methode, der-
selbe rationalistische Aufwand zu einem irrationellen Zwecke,
und wenn wir uns nun zurückerinnem an das wirre Chaos
nordischer Ornamentik, das gleichsam das abstrakte un-
körperliche Bild einer unendlichen ziellosen Bewegtheit bot,
so sehen wir, wie hier im ersten erwachenden dumpfen künst-
lerischen Betätigungsdrang nur vorbereitet wurde, was später
mit so hohem Raffinement in Architektur und Scholastik zur
Vollendung gebracht wurde. Die Einheitlichkeit des Form-
willens durch viele Jahrhunderte hindurch tritt deutlich zutage.
Doch würde man in grossem Irrtum sein, die Scholastik
und die gotische Architektur für nichts anderes als logische
 
Annotationen