88
BEGINNENDE EMANZIPATION
heran und sucht ihn gleichsam wieetwas Organisch-Lebendiges,
ja wie etwas Körperliches zu behandeln. Mit anderen Worten:
an die Stelle der Formenklarheit als Ideal der griechischen
Tektonik tritt die Raumklarheit als Ideal der römischen Archi-
tektur, an die Stelle der organischen Formenbildung tritt die
organische Raumbildung, an die Stelle der Formplastik tritt
die Raumplastik (wenn dieser kühne, die Sachlage aber richtig
treffende Ausdruck erlaubt sein soll). Die Raumgrenzen
sollen derartige sein, als ob der Raum sie sich gleichsam
selbst gesetzt habe, um sich dem unendlichen Raum gegenüber
zu individualisieren. Es soll der Eindruck natürlicher Raum-
grenzen entstehen, innerhalb deren der Raum ein selbständiges,
organisch gebundenes Leben führen kann. So soll das Un-
sinnliche, nämlich der Raum, wieder versinnlicht, das Im-
materielle wieder materialisiert, das Unfassbare wieder
objektiviert werden. Diesen künstlerischen Zwecken dient
die klassische Raumkunst, deren glänzendste Leistung das
Pantheon ist. Hier ist die Wölbung nur ein Mittel zur
Verwirklichung einer sinnlichen Raumplastik, deren Ideal
es ist, auch mit räumlichen Verhältnissen den Eindruck eines
harmonischen, in sich ruhigen und ausgeglichenen Lebens
zu schaffen. In diesem harmonischen Raumgebilde ist
der Kampf von lastenden und tragenden Kräften nun ganz
verschwunden. Was die griechische Tektonik nur indirekt,
d. h. durch das ganze System symbolischerVermittlungsglieder
erreichen konnte, nämlich die Milderung des konstruktiv
unumgänglichen Zusammenstosses von Last und Kraft, das
erreicht die sinnliche Raumplastik des Römers durch die
Wölbungskunst direkt: in weicher organischer Rundung
nimmt die Wölbung alle tragenden Kräfte in sich auf und
führt sie ohne alle Gewaltsamkeit zu einem ruhigen, selbst-
verständlichen Abschluss und Ausgleich. Es wäre schwer
zu entscheiden, ob ein solches architektonisches Gebilde wie
das Pantheon von der Erde emporsteige oder auf ihr laste,
vielmehr heben sich durch die absolut organische Raum-
bildung diese Eindrücke von Tragen und Lasten gegenseitig
auf: die lastenden und tragenden Kräfte befinden sich in
einem reinen Gleichgewichtszustand.
Wir sehen also, in der römischen Kunst ist die Wölbung
— abgesehen von ihrer rein praktischen Bedeutung bei Nutz-
BEGINNENDE EMANZIPATION
heran und sucht ihn gleichsam wieetwas Organisch-Lebendiges,
ja wie etwas Körperliches zu behandeln. Mit anderen Worten:
an die Stelle der Formenklarheit als Ideal der griechischen
Tektonik tritt die Raumklarheit als Ideal der römischen Archi-
tektur, an die Stelle der organischen Formenbildung tritt die
organische Raumbildung, an die Stelle der Formplastik tritt
die Raumplastik (wenn dieser kühne, die Sachlage aber richtig
treffende Ausdruck erlaubt sein soll). Die Raumgrenzen
sollen derartige sein, als ob der Raum sie sich gleichsam
selbst gesetzt habe, um sich dem unendlichen Raum gegenüber
zu individualisieren. Es soll der Eindruck natürlicher Raum-
grenzen entstehen, innerhalb deren der Raum ein selbständiges,
organisch gebundenes Leben führen kann. So soll das Un-
sinnliche, nämlich der Raum, wieder versinnlicht, das Im-
materielle wieder materialisiert, das Unfassbare wieder
objektiviert werden. Diesen künstlerischen Zwecken dient
die klassische Raumkunst, deren glänzendste Leistung das
Pantheon ist. Hier ist die Wölbung nur ein Mittel zur
Verwirklichung einer sinnlichen Raumplastik, deren Ideal
es ist, auch mit räumlichen Verhältnissen den Eindruck eines
harmonischen, in sich ruhigen und ausgeglichenen Lebens
zu schaffen. In diesem harmonischen Raumgebilde ist
der Kampf von lastenden und tragenden Kräften nun ganz
verschwunden. Was die griechische Tektonik nur indirekt,
d. h. durch das ganze System symbolischerVermittlungsglieder
erreichen konnte, nämlich die Milderung des konstruktiv
unumgänglichen Zusammenstosses von Last und Kraft, das
erreicht die sinnliche Raumplastik des Römers durch die
Wölbungskunst direkt: in weicher organischer Rundung
nimmt die Wölbung alle tragenden Kräfte in sich auf und
führt sie ohne alle Gewaltsamkeit zu einem ruhigen, selbst-
verständlichen Abschluss und Ausgleich. Es wäre schwer
zu entscheiden, ob ein solches architektonisches Gebilde wie
das Pantheon von der Erde emporsteige oder auf ihr laste,
vielmehr heben sich durch die absolut organische Raum-
bildung diese Eindrücke von Tragen und Lasten gegenseitig
auf: die lastenden und tragenden Kräfte befinden sich in
einem reinen Gleichgewichtszustand.
Wir sehen also, in der römischen Kunst ist die Wölbung
— abgesehen von ihrer rein praktischen Bedeutung bei Nutz-