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Wulff, Oskar
Altchristliche und byzantinische Kunst (Band 1): Die altchristliche Kunst von ihren Anfängen bis zur Mitte des ersten Jahrtausends — Berlin-Neubabelsberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.25054#0026
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GRIECHISCHE UND SYRISCHE CHRISTLICHE LITERATURBLÜTE

Irenaus (J202) erkennen lassen. Der jüdische Engelglaube verquickte sich in Antiochia im
5. Jahrhundert mit neupythagoräischen philosophischen Spekulationen in der „himmlischen
Hierarchie“ des Pseudodionysius Areopagita. Auch im Kult sehen wir schon früh in einer
mystischen Ausdeutung der liturgischen Handlung und des Altargeräts apokalyptische Ge-
danken sich durchsetzen. Von der anderen Seite mündete die in Antiochia fortblühende
griechische Rhetorik in die christliche Erbauungsliteratur ein. Aus der antiochenischen Schule
gingen die gewaltigen Kirchenredner des 4. Jahrhunderts hervor: Basilius der Große (J*379)
und vor allem Gregor von Nazianz (f 397), dem die feurige Beredsamkeit seiner Homilien
den Namen des Theologen eintragen sollte. In seinen Dichtungen aber erreicht er den Gipfel
schwungvollster christlicher Gedankenpoesie, die er noch in die klassischen Maße des Hexa-
meters bannt. In der Folge verblaßt jedoch die üppige Blüte dieses christlichen Triebes
griechischer Wortkunst, während daneben die junge syrische Volksliteratur, sie immer kräftiger
überschattend, emporwächst. In den Dienst des Kultus selbst tritt hier die Hymnendichtung
zum Preise der fleischgewordenen Gottheit und der Gottesmutter mit neuen, der Psalmodie
an verwandten Rhythmen, die im 4. Jahrhundert dem Ambrosianischen Kirchengesang schon
zum Vorbild wird, im 5. Jahrhundert aber, von der griechischen Kirche in getreuer Nach-
bildung aufgenommen, selbst in Byzanz Wurzel schlägt. Ist doch der berühmte Melode
Romanos wahrscheinlich ein geborener Syrer gewesen. Gleichzeitig dichtet der semitische
Volksgeist in Syrien und Palästina am Evangelium weiter und spinnt besonders die Marien-
legende, das Jugendleben und Leiden Christi im „Protoevangelium“ des Jakobus, und anderen apo-
kryphen Berichten aus. In den weltentrückten Klöstern, deren Zahl und Ruf bald die ägypti-
schen Einsiedeleien hinter sich läßt und sich schnell bis in das obere Mesopotamien ausbreitet,
entstehen die Legenden von der Auffindung des heiligen Kreuzes durch die Kaiserin Helena,
von wundertätigen, nicht von Menschenhänden gemalten Bildern, zahlreiche Heiligenleben,
und theologische Traktate. Hier wird schon im 4. Jahrhundert die apokalyptische Dichtung
durch die Weltgerichtsschilderung des Styliten Ephraim mit dem großartigsten religiösen
Phantasiegemälde vor Dantes Hölle zur Vollendung gebracht. Eine Quelle unerschöpflicher
Anregungen hatte sich diesem Schrifttum erschlossen, als Jerusalem durch Konstantin den
Großen mit den Bauten am heiligen Grabe beschenkt worden war, über die der Kirchenvater
Eusebius von Cäsarea (f 338) als erster Augenzeuge berichtet und die bald auch vom fernsten
Westen Pilger heranzogen. Der Kult der heiligen Stätten Palästinas war dadurch in den
Mittelpunkt des religiösen Lebens der gesamten christlichen Welt gerückt und schöpfte aus
der Kreuzeslegende fortdauernd kräftige Nahrung. Antiochia mußte seitdem, besonders nach
der Erhebung des feurigen Cyrill zum Patriarchen von Jerusalem (f 386), das Primat über
das eigentliche Syrien mehr und mehr an die Hauptstadt des Heiligen Landes abgeben.

Für Syrien, das nie eine nationale, politische und kulturelle Zusammenfassung gesehen
hatte, unter dem Schutze des römischen Reiches aber seine wirtschaftlichen Kräfte immer
reicher hatte entwickeln können, wird das Christentum zur Nationalreligion, die alle schlum-
mernden Volkskräfte wach rief. Der Gewerbefleiß seiner Bevölkerung macht es zum ersten
Industrieland des ausgehenden Altertums, und die Verfeinerung aller Technik kommt auch
der bildenden Kunst zugute. Die ausschlaggebende Bedeutung des syrischen Kunstschaffens
für die Grundrichtung der gesamten christlichen Kunst werden wir freilich erst völlig er-
messen, wenn ihr Einfluß auf den übrigen Osten und auf das mittelalterliche Abendland
einmal ganz klar erkannt sein wird. Sind uns doch, die Baukunst ausgenommen, nur dürftige
Reste von ihr erhalten geblieben. Gleichwohl erlauben die glücklicherweise noch in stattlicher
 
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