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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Schmarsow, August: Die reine Form in der Ornamentik aller Künste, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0237
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DIE REINE FORM IN DER ORNAMENTIK ALLER KÜNSTE. 233

entstehen und sich sogar soweit hinauf erstrecken, wie die Berührungs-
möglichkeit unserer Arme, Hände, Finger noch reichen mag. Um eine
aufrechte Grade, als Gegenbild unserer Vertikalachse, mögen sich beider-
seits entspringende Kurven in symmetrischer Korresponsion ausbreiten,
deren Schwingungen sich nach oben zu allmählich verjüngen und end-
lich um den Scheitelpunkt des unverkennbaren »Gewächses« gipfeln,
das in keiner Flora des Landes oder des Meeres zu finden sein wird.
Und bei solcher Veranschaulichung menschlicher Verwandtschaft mit
dem Wesen der aufsteigenden Wand liegen Herabminderungen des
Maßstabes lange nicht so nahe, wie bei den Friesstreifen mit ihrer
Betonung der Länge als Hauptdimension und ihrer relativen Niedrig-
keit schon von selbst.

Indessen die graphische Form ist ja keineswegs die einzige oder
auch nur die ursprünglichste, die uns innerhalb der Ornamentik der
Architektur begegnet. Für die Raumgestalterin gelten vielmehr die
nämlichen Möglichkeiten allesamt, die uns aus dem Körperschmuck
des Menschen selber schon bekannt sind, und hier haben die primi-
tivsten Mittel der Naturvölker vielleicht eher den Vorrang vor unseren
abgeklärten Geschmacksurteilen. Wir dürfen uns also durchaus nicht mit
der Rechenschaft über Flächendekoration und flächenhafte Reizelemente
begnügen, sondern müssen die Körperhaftigkeit der Bauglieder ebenso
wie die der Schmuckstücke selber in Betracht ziehen; denn alles »Li-
neare«, alles »Gezeichnete« ist vielleicht schon ein zweidimensionaler
Ersatz nur für das körperliche Urbild, den Behang mit vorgefundenem
Zierat. So wären auch die einfachen sogenannten »planimetrischen«
Figuren, das Quadrat, das Dreieck, wie das Rechteck und der Kreis
nur oberflächliche Unterschiebsei für greifbare, handgreifliche Objekte,
wie die Wirklichkeit umher sie dem Erdbewohner darbot, und Kugel
oder Würfel wären schon Läuterungen, Abstraktionen reiner Form,
eben die abgeschliffenen, nach Regelmaß typisierten und idealisierten
Körper, deren die Ornamentik für ihre Wiederholungen gleichwertiger
Reizkomplexe bedarf. Unzweifelhaft haben die Körperformen für den
menschlischen Schmuck das Prioritätsrecht vor den Flächenformen oder
den gezeichneten und getuschten Abbildern überhaupt, also auch den
Anspruch als »uranfänglich reine Formen« der Ornamentik zu gelten.
Und gleichwie an keramischen Gebilden die Buckel und Knöpfe, in
der Toreutik die Nagelköpfe und Wulste, die Gelenkkapseln und Gurt-
ringe, so hätten uns Zierkörper an Säulen, Pfeilern und Wänden als
ursprüngliche Anhängsel der Festdekoration mehr Aufschluß zu geben,
denn alle späteren Reminiszenzen und fossilen Überreste oder »Symbole«.

Nach diesem Hinweis gewinnen all die lehrreichen Kapitel Gott-
fried Sempers über die Herkunft der Schmuckformen (Der Stil, in
 
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