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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Herrmann, Helene: Studien zu Heinrich von Kleist
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0303
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300 HELENE HERRMANN.

legener Beweger ist und ergriffener Bewegter, und daß jede seiner
Äußerungen zwiefach dramatisch wird: als absichtsvolle Willenshand-
lung, auf ein Ziel gerichtet, und als unwillkürliche Reaktion auf eine
empfangene Erschütterung. Diese Doppelheit, die den Lebendigkeits-
wert, die dramatische Intensität der Szenen erhöht (schon die Szene
mit Natalie ist übrigens von der Art), erschwert das klar begriffliche
Herausschälen des Gehalts und macht zwiefältige Deutung möglich.
Kottwitz wirkt auf den Kurfürsten, nicht mit der strategischen Recht-
fertigung des zu frühen Angriffs, überhaupt nicht mit seinen Argu-
menten, aber er wirkt bestimmt mit seinem Menschtum, mit dem, was
an Wesen ungewollt aus ihm herausglüht, der Offenbarung, wie sehr
seine germanische Oefolgschaftstreue in ihrer persönlich fundierten
Art Geist und Seele auch der Heeresdisziplin ist, die freie Mensch-
lichkeit ebenso voraussetzt wie Ordre parieren können. Der Kurfürst
antwortet ihm, schwer durchschaubar, weil beides in seiner Antwort
ist: wahres Ergriffensein durch diese Menschlichkeit und überlegenes
Wissen, daß er in der Äußerung des Prinzen ein noch höheres, er-
reichbares Niveau lebendigen Gehorsams zeigen könne:

>Mit dir, du alter, wunderlicher Herr,
Werd' ich nicht fertig! Es besticht dein Wort
Mich, mit arglist'ger Rednerkunst gesetzt,
Mich, der, du weißt, dir zugetan, und einen
Sachwalter ruf ich mir, den Streit zu enden,
Der meine Sache führt!«

Und demgemäß möchte ich auch die Wirkung der Hohenzollernszene
nicht in dem suchen, was Hohenzollern für das Wichtigste hält. Dieser
wirkt nun freilich nicht mit seiner Menschlichkeit, sie ist ja weit dürf-
tiger als die des alten Kottwitz, und so kann vom Wesen her nicht
die Wirkung ausgehen, die sich den Argumenten versagt. Sie geht
diesmal vielmehr aus von dem, was die Erzählung des Hergangs dem
weisen und tiefen Blick des Herrn an neuen Lebenszusammenhängen
offenbart.

Ein Versuch, diese Szene neu zu deuten, setzt aber voraus, daß
man sich über den Augenblick klar wird, in dem der Kurfürst be:
gnadigen will. Das ist recht schwer. An sich hat der Moment nach
der Lektüre des Briefes viel für sich, und hier wäre dann der Sieg
der vom Kurfürsten wachgerufenen plastischen Kraft, die sich eben
in der Gesinnung eines Menschen bewährt hat, auch nach außen hin
am eklatantesten veranschaulicht. Diese Kraft siegt zugleich in der Seele
des Schuldigen wie des Richters. Denn der Kurfürst will jetzt das
äußere Leben dessen, den er innerlich lebendig gemacht hat.

Anderseits spricht gegen den genannten Moment (wie übrigens,
 
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