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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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BESPRECHUNGEN. 135

des Seins ist also Aufgabe der Kunst«, sie faßt die Welt als Gefühl, Erlebnis ist
die unumgängliche Voraussetzung jeglicher Gestaltung. Die Künste unterscheiden
sich durch die Mittel dieser Gestaltung voneinander. Die Poesie bedient sich des
Wortes als »Sinn, Bild und Klang«, gibt »bewegte Bilder«. Doch gesellt sich zur
»bewegten Koexistenz« noch die »Intensität«, so ist die Poesie »eine Synthese zwi-
schen Musik und Malerei«, nur spricht sie »vor allem den seelischen Gehalt un-
mittelbar« aus, weshalb der innere Reichtum des Dichters eine unerläßliche Be-
dingung poetischen Schaffens ist1). Die Gliederung der Poesie in Dramatik, Epik
und Lyrik bleibt bestehen, Didaktik wird aus dem engeren Kreise der Dichtkunst
hinausgewiesen, weil sie »im Hinblick auf eine beabsichtigte Wirkung« schafft, wie
sich Geiger vollständig unklar ausdrückt, denn auch die anderen Zweige der Dicht-
kunst beabsichtigen eine Wirkung, selbst wenn sie nur zum eigenen Genüsse des
Dichters schaffen; es hätte wenigstens gesagt werden müssen, daß die Didaktik
außerästhetische Wirkungen beabsichtige. Den Unterschied zwischen der Lyrik und
der als Pragmatik zusammengefaßten Gattung Drama und Epos erkennt Geiger in
der »Zeitauffassung«. Während die Pragmatik eine »Zeitreihe« biete, eine Hand-
lung, eine Entwickelung, soll die Lyrik einen Moment als Zustand isoliert darstellen.
Danach wären »An Schwager Kronos« oder die Marienbader »Elegie« von der
Lyrik auszuschließen, denn sie geben durchaus eine künstlerische Zeitreihe, eine
Entwickelung, und Herder war es, der gerade darauf für die Lyrik Gewicht legte,
so daß etwa »Willkommen und Abschied« sich durch die »Entwickelung« von der
vorstraßburger Lyrik Goethes unterscheidet2). Natürlich schwebt Geiger etwas Rich-
tiges vor, nur fehlt ihm die Gabe, es auch richtig zu formulieren; ihm schwebt
nämlich das vor, was Schopenhauer gelegentlich gesagt hat, daß die Lyrik das
»Interessante« nicht biete, daß also der Genießende nicht durch den interessanten
Verlauf eines Geschehens in der Lyrik seine Befriedigung finde. Würde die Lyrik
wirklich nur einen Zustand darbieten, dann gehörte sie nach Geigers eigenen Fest-
stellungen überhaupt nicht in die Poesie oder wäre alle Poesie (»bewegte Koexi-
stenz«) Lyrik. So stolpert man schon an der Schwelle des Gebäudes, das Geiger
aufrichten will, und mißtraut einem Dogmatismus, der gleich im Beginn so voll-
ständig im Stiche läßt.

Aus dem Begriff Zustand folgert Geiger sofort deduktiv einige weitere charakte-
ristische Züge der Lyrik: die »konzentrische Anlage«, den »elementaren Ausdruck«,
die »Einheit des Gefühls«, und die »Kürze«. Näher geht Geiger leider auf diese
Behauptungen nicht ein, sonst hätte er sich wohl selbst von ihrer Unhaltbarkeit
überzeugen müssen. Unter »konzentrischer Anlage« versteht er das Gegenteil von
»genetischer Reihe«; die Lyrik drücke das Gefühl »sprunghaft und unzusammen-
hängend« aus, »indem sie sich fortwährend bemüht, den Empfindungsgehalt rastlos
zu Tage zu fördern«. »Elementaren Ausdruck« findet er schon selbst auch bei den

') Als Kennzeichen des Dilettanten faßt Geiger (S. 4) den »Mangel persönlicher
Empfindung«; das scheint mir jeder Erfahrung zu widersprechen, wie auch Goethe
zu Eckermann (l6, S. 181) im Anschluß an einen Brief Mozarts sagte (L. u. L.
S. 33). Gewöhnlich hat der Dilettant einen Überfluß an persönlichem »Empfinden«,
ist aber nicht im stände, Wesentliches und Unwesentliches zu scheiden, oder seinem
persönlichen »Empfinden« entsprechenden Ausdruck zu leihen. Übrigens beweisen
gerade Volkslieder, wie glücklich oft ein Dilettant wenigstens in einem einzelnen
Fall Gefühl und Ausdruck zu vereinigen wußte.

2) Man erinnere sich des Goethischen Wortes (Briefe 23, 104): »Zustand ist ein
albernes Wort; weil nichts steht und alles beweglich ist«.
 
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