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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Hamann, Richard: Individualismus und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0318

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314 RICHARD HAMANN.

lichkeit gerade darin bestehen, daß sie für eine andere einzutreten ver-
mag. Die Unersetzlichkeit birgt fast immer Tragik in sich.

Sehen wir zu, wo dieser Individualismus zu Hause ist, so werden
wir überall auf dieses Losgelöstsein von der Welt oder eine spezifisch
ästhetische Naturanlage treffen. Man pflegt Goethe als Apostel dieses
Individualismus zu nennen, und wohl mit Recht: Goethe, der als
Künstler von vornherein der Welt mit ästhetischem Auge gegenüber-
stand, der seinen eigenen Erlebnissen und Verhältnissen so ästhetisch
betrachtend und bildend gegenübertreten konnte, daß er über ihre
Nachwirkungen hinwegkam, Goethe, der die größten Weltereignisse
ruhig, man möchte sagen interesselos in seiner Nähe geschehen ließ,
versenkt in Betrachtung menschlicher Schädelformen, Goethe, der wie
selten einer an jeder Erscheinung Anteil nehmen konnte, der — wie
in der Zueignung seiner Gedichte — sich bei jedem Schritte der neuen
Blume freut und andächtig einem jeden Wesen zuschaut, wie es sich
von innen heraus nach seiner Natur entfaltet und zum Individuum
entwickelt.

Mit Goethe sind wir schon in der Nähe der Romantik, der großen
Enttäuschung vom Leben, vom unbefriedigten Willen, der vor lauter
Hindernissen und Ängsten sich zurückzieht und seine Hoffnungen ins
Jenseits wirft. Die Romantik hatte kein ethisches, praktisches Ver-
hältnis zur Welt, zu diesen Dingen, und ihr Wille konnte sich mit ihr
nur abfinden, wenn er sich zurücknahm, nichts mehr von ihr wollte,
resignierte; denn das war die Ruhe, der Frieden. Die Erlösung
der Romantik heißt: Schopenhauer und die Welt als Vorstellung; der
einzig mögliche Standpunkt für sie: die Ästhetik, das interesselose
Zuschauen.

Aus der romantischen Schule stammt denn auch die Kunstbetrach-
tung, die darauf verzichtete, vom Kunstwerk zu fordern und zu wollen
wie die idealistische Ästhetik, sich vielmehr begnügte, ein Kunstprodukt
in seiner Eigentümlichkeit aus historischen und psychologischen Be-
dingungen zu verstehen. Wilhelm Schlegel ist hier als verdienstvoll
zu nennen. An die Stelle des Schönen trat das Charakteristische. Es
erprobte sich diese neue Schätzung zuerst an Werken der Vergangen-
heit, trat als Literaturgeschichte auf; war doch vergangenen Zeiten
gegenüber jene Distanz, jene Interesselosigkeit und Ferne von dem
zeitgenössischen Weltgeschehen um so viel leichter zu gewinnen, wie
etwa ein im Kunstwerk, Roman oder Drama geschilderter Vorgang
diesen Zustand vor den meisten wirklichen Lebensereignissen voraus
hat. So ist der ganze, mit der romantischen Schule zusammenhängende
Historismus des 19. Jahrhunderts eine Folge dieses ästhetischen Triebes,
eine ästhetische Betrachtung vergangener Zeiten und Menschen, Freude
 
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