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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0548

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544 HUGO SPITZER.

drückte, in Worte gekleidete Zustand selbst kein anderer ist als der
des ästhetischen Schauens und ästhetischen Oenießens, so ist die
Reproduktion eines ästhetischen Gefühls, also ein mittelbares Gefühl
dieser Art tatsächlich in dem künstlerischen Totaleindrucke enthalten,
und will man den letzteren mit einer gewissen Berechtigung »die un-
mittelbare Emotion« nennen, so darf man sich an der Paradoxie nicht
stoßen, daß das »unmittelbare« ästhetische Gefühl, inwiefern es als
Gesamteffekt ja auch das reflektierte zur Voraussetzung hat, »ver-
mittelt« ist durch das »mittelbare«. Zur Erläuterung der Sache selbst
aber genügen wenige Beispiele aus der neueren Lyrik. Eines der
besten dürfte Eichendorffs prächtiges, jedermann bekanntes: »Es
schienen so golden die Sterne« bieten. Nicht nur, daß der Poet sein
Gedicht »Sehnsucht« überschreibt und in den Strophen des Liedes
selbst die Sehnsucht nach Herrlichkeiten, deren Zauber sich durch
die schlichten Worte mit fast unbezwingbarer Kraft entfaltet, zu innig-
stem, hinreißendstem Ausdrucke bringt, daß mithin derjenige, welchen
dieser Zauber gefangen nimmt, bei voller Ausschöpfung des im Liede
Gebotenen zugleich auch von einem reflektierten ästhetischen Gefühl,
eben der nachempfundenen Sehnsucht nach den fernen Wundern, be-
wegt werden muß, — man könnte hier, zufolge der äußeren Einklei-
dung des Gedichts, sogar eine doppelte Reflexion behaupten, weil
Eichendorff seine eigene ästhetische Erregung ja schon als eine reflek-
tierte darstellt: — sind es angeblich doch »zwei junge Gesellen«, die,
»von« all jenen Herrlichkeiten singend, also ihre ästhetische Ergriffen-
heit in Tönen ausströmen lassend, die Sehnsucht des Dichters und
hiermit das Entzücken derer wecken, die dem Reiz seiner Verse sich
hingeben. Nicht minder gute Exempel finden sich bei Heine. Es ist
oft eine ganz besondere, eine zerflossene, sehnsüchtige, träumerische,
von dem hellen, kraftvollen, Farben und Umrisse deutlich erfassenden
Schauen sehr verschiedene ästhetische Haltung, die in so vielen Heine-
schen Liedern mit höchster Kunst sich mitteilt; allein in der Haupt-
sache bleibt der Gemütszustand, den der Dichter offenbart, gleichwohl
ein ästhetischer, und niemand, der wirkliche Feinheit des Urteils be-
sitzt, wird nun glauben, daß die Schlußverse des Liedchens: »Ge-
kommen ist der Maie« gleichgültig seien für die Wirkung der voran-
gegangenen Strophen, oder daß das »Ich lieb' eine Blume, doch weiß
ich nicht welche«, seinen ganzen Effekt den dürftigen paar Natur-
bildern danke. Unausgesprochen aber klingt, wie gesagt, die ästhe-
tische Stimmung des Dichters durch alle die vollendetsten Erzeugnisse

erscheint als eine der heikelsten und schwierigsten und dürfte sich kaum mit völliger
Sicherheit beantworten lassen. Es handelt sich eben um kein ganz eindeutiges
Faktum.
 
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