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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 2.1907

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Kirschmann, August: Über das Kolorit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3530#0030
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26 AUGUST KIRSCHMANN.

ist das Bild nur ein Kunststück *), es kann aber doch immer noch sehr
verdienstlich sein, denn die geschickte Wiedergabe des allseitig Aus-
gedehnten auf der Fläche verdient an sich wie jede andere Virtuosität
ihre Anerkennung; und zwar umsomehr, als der richtigen Behandlung
der Linear- und Luftperspektive auch etwas von dem Charakter des
streng Wissenschaftlichen anhaftet.

Das große Publikum ist meist geneigt etwas für ein Kunstwerk
zu halten, wenn seine Ausführung entweder schwierig oder doch
wenigstens eigenartig ist; darum jubelt man in der Oper einer Sängerin
zu, die noch ein paar Töne höher als andere singen kann, und ver-
nachlässigt eine andere, die das nicht vermag, auch wenn sie viel reiner
und gefühlvoller singt. Darum muß die »höhere Tochter« auf dem
Musikhackbrett Bravourstücke spielen, die sie nicht versteht; den
Hörern wäre es gewiß angenehmer, wenn sie sich herablassen wollte,
eine einfache Melodie mit Gefühl vorzutragen; aber das kann sie
meistens nicht. Darum endlich werden heute so oft Bilder angestaunt
und preisgekrönt, die im Grunde nur das Produkt kühner oder über-
raschender Anstreicherkunstgriffe sind.

Es ist leicht einzusehen, daß über das zu Erstrebende die Ansichten
sehr verschieden sein können; so viel aber ist sicher: wer die Kunst
zur bloßen Nachahmerin der Natur macht, wer ihr den göttlichen
Funken des Strebens nach dem Schöneren, Vollkommeneren nicht ein-
zugeben weiß, der leistet eben nur den minderen Teil der Kunst, das
Kunststück, nicht das Kunstwerk. Am allerwenigsten aber leisten die,

J) Die Malerei, soweit sie die zweitgenannte Aufgabe erfüllt, ist ein Handwerk
oder Kunsthandwerk oder Kunst, das letztere genau so, wie die Kunst des Seil-
tänzers, des Taschenspielers, des Athleten, oder wie die Redekunst; sollte ich aber
doch einen Wertunterschied zwischen den verschiedenen Künsten machen, so würde
ich diese Kunst, wie die des Seiltänzers, des Taschenspielers und des Sprachkünstlers,
der keinen Fehler in der lateinischen oder griechischen Konjugation macht, immer
noch hoch über die Redekunst stellen, denn die letztere ist eine Art unehrliche Kunst.
Der Seiltänzer und Equilibrist übt seine Kunst ganz ehrlich aus. Der Maler will zwar
einen Schein verursachen, aber es ist ein Schein ohne Betrug. Der Zauberkünstler
und Taschenspieler gibt die Täuschungen, die er hervorruft, durchaus nicht als
Wirklichkeit aus; er will uns lediglich dadurch amüsieren, daß wir nicht wissen, wie
es gemacht wird. Der Redner aber, sofern er überhaupt die Rede»kunst« anwendet,
d. h. sofern er versucht, seine Hörer durch etwas anderes zu überzeugen und mit
sich fortzureißen als durch die innere Wahrheit seiner Argumente, ist einfach ein
Betrüger. Der Redner, der mit ganzer Seele bei der Sache ist, braucht keine Rede-
kunst, er braucht nur folgerichtiges, scharfes Denken und die Sprache des ehrlichen
Menschen, der erkünsteltes Pathos, rhetorische Kniffe und den Gebrauch hoch-
trabender Schlagworte verschmäht. Die Redekunst sollte daher auch ebensowenig
gelehrt werden dürfen, wie die Kunst, Geldschränke zu erbrechen oder die Kunst
(am Strafgesetz vorbei) zu stehlen.
 
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