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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Spitzer, Hugo: Der Satz des Epicharmos und seine Erklärungen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0209
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DER SATZ DES EPICHARMOS UND SEINE ERKLÄRUNGEN. 205

rung des Menschen anzunehmenden Oeschmackselemente doch nicht
einer steten Veränderung unterliegen können, offenbar bedingt, daß
der Reiz einer so ungemein komplizierten, buntscheckigen und mannig-
fach gegliederten Erscheinung wie derjenigen eines höheren Tieres
auch seinerseits zu den ästhetischen Elementen zählt. Mit dem Ge-
danken einer sehr beträchtlichen Variabilität des Schönheitssinnes, so-
fern dieselbe die eigentlichen, allgemeinen, sich in verschiedenen ästhe-
tischen Tatsachen kundgebenden Elemente betrifft, ist also, wie früher
im einzelnen dargetan wurde, der biologischen Ästhetik wenig gedient;
ja, diese setzt sich sogar einer großen Gefahr aus, wenn sie eine
derartige, bis in die letzten Kräfte hinabreichende Variabilität allzu-
sehr in Anspruch nimmt. Die wahren psychologischen Elemente sind
ihrer Natur nach eigenwillig und rücksichtslos; sie funktionieren un-
bekümmert um das Ergebnis; sie müßten ohne äußeren Zwang, ohne
Hemmung ihrer natürlichen Tendenz durch fremde Faktoren gerade
bei höchster Variabilität alle möglichen anderen ästhetischen Reak-
tionen gegenüber dem Bilde der eigenen Spezies ebenso oft oder
vielmehr unvergleichlich öfter bewirken als die im Satz des Epichar-
mus ausgesprochene, und auch der Kampf ums Dasein als hemmende,
beschränkende Macht kann die Sicherheit des Ergebnisses, die feste
Ordnung, wie sie in der stets zu Tage tretenden Eigengattungsschön-
heit liegt, mittels seiner ausjätenden Tätigkeit nur dann herbeiführen,
wenn sich wenigstens vereinzelt unter den Variationen der elemen-
taren Geschmacksanlagen solche befinden, durch deren gesetzmäßige
Betätigung die gerade für die Arterhaltung notwendigen oder nütz-
lichen Eigenschaften mit dem größten ästhetischen Reiz ausgestattet
werden. Der Existenzkrieg muß Material und Gelegenheit zur Aus-
lese haben. Ob man aber bei exklusiver Voraussetzung derjenigen
Elemente, welche die wissenschaftlich psychologische Ästhetik zu
Grunde legt, eine solche Gelegenheit annehmen, ob man glauben darf,
daß der Natur inmitten einer Fülle unpassender, d. h. biologisch schäd-
licher Geschmacksmodifikationen immerhin auch die zur Züchtung
geeigneten dargeboten werden, erscheint nach dem früher Ausein-
andergesetzten wenigstens in sehr vielen Fällen recht zweifelhaft.
Denn man kann sich, wie gezeigt, beim besten Willen eine Abart des
»Farbensinns« nicht vorstellen, die auf eine unscheinbare lokale Zeich-
nung erpicht ist oder an dem Wegbleiben dieser Zeichnung besonderes
Wohlgefallen findet; man kann sich schlechterdings keinen Begriff
von dem Wesen und den Gesetzen eines objektiven oder absoluten,
d. h. schon auf das zum ersten Male gesehene, für sich betrachtete
Gestaltbild ansprechenden Formensinns machen, dessen Eigenart sich
darin äußert, daß aus der geringfügigen Verlängerung des einen und


 
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