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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Foth, Max: Die Raumillusion und die Unschärfe moderner Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0465
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BEMERKUNGEN.

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selber hat auch sie noch nicht erreicht. Entsprechend dem gewöhnlichen Zickzack-
gang historischer Entwickelungen stellt sie den extremen Kontrast zu ihrer Vor-
läuferin dar: dort alles scharf, hier alles unscharf. Die Wahrheit aber liegt in
solchen Fällen stets in der goldenen Mitte. Wenn es richtig ist, daß unser Sehfeld
in einem bestimmten Augenblick nicht mehr als einen Fixationspunkt enthalten
kann, so ist es anderseits ebenso richtig, daß in der Regel unser Sehfeld nicht
ohne diesen einen Fixationspunkt bestehen kann. Ein meist unwiderstehlicher
Zwang drängt uns, den Blick auf irgend einen der sichtbaren Gegenstände einzu-
stellen, und wenn nun ein Bild uns gar keine Möglichkeit bietet, einen Körper,
eine Linie, einen Punkt scharf zu sehen, so entsteht in uns meist ein gewisses
Gefühl des Unbehagens, des rastlosen Umhergetriebenwerdens, der Unruhe und
Nichtbefriedigung. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, zwei photographische
Aufnahmen derselben Landschaft zu vergleichen, von denen die eine bei total un-
scharfer Einstellung gemacht wurde, während die.zweite (bei voller Objektivöffnung)
nur eine bestimmte Distanz scharf aufs Korn faßte.
Die Werke der bildenden Kunst können aus dem fortlaufenden Strome der Ge-
schehnisse immer nur einen Moment herausheben. Dieser Satz hat aber einen
doppelten Sinn. Allgemeine Geltung hat er nach der objektiven Seite hin: Be-
schränkung auf einen einzigen aus einer Reihe zusammenhängender Bewegungs-
oder Veränderungsmomente der Körper. Während aber die Zeiten längst vorüber
sind, als die Maler naiv genug mehrere Stadien einer und derselben Handlung auf
derselben Bildfläche schilderten, ist die subjektive Seite des obigen Satzes, meines
Erachtens, noch immer nicht genügend gewürdigt. Ein jeder Eindruck ist das Pro-
dukt zweier Faktoren, des Objekts und des Subjekts. Ist dieser Eindruck auf einen
Moment beschränkt, so heißt dies nicht allein: unser umherschweifender Blick fixiert
einen einzigen Raumpunkt; es heißt ebenso umgekehrt: der also ausgeschiedene
Raumpunkt »fixiert« einen, aber auch nur einen einzigen Zeitpunkt aus der Be-
wegung des umherschweifenden Blickes. In einem jeden solchen Zeitpunkt aber
kann das Auge immer nur je eine Stelle, sei es des wirklichen, sei es des vorge-
stellten Raumes, fixieren. Läßt der Maler solch einen momentanen Eindruck gleich-
sam erstarren, so wird, von Rechts wegen, dieser neue Zustand der Erstarrung
bindend für alle beiden Pole der Wahrnehmung, sowohl für den objektiven, wie
für den subjektiven. Das heißt: das Auge darf nunmehr bloß noch an einem ein-
zigen Punkt die Anforderung erheben, scharf zu erscheinen, vielmehr, es darf seinen
Sehfokus überhaupt nicht auf die andern Punkte überführen. Damit wäre denn
aber auch der Maler der Pflicht überhoben, mehr als einen Punkt (oder dessen
allernächste Umgebung) scharf und deutlich darzustellen — tut er es dennoch, so
ist es Zeitverschwendung.
Zwar schweift das Auge in Wirklichkeit doch mehr oder weniger frei über die
Bildfläche hin; darin ist jedoch noch kein Widerspruch zu dem Gesagten enthalten.
Ebenso wie der Künstler stets bestrebt sein soll, den »fruchtbarsten« Moment aus-
zuwählen, so wird oder müßte der Beschauer den »bedeutsamsten« Punkt in der
Darstellung aufsuchen (siehe Lipps, Ästhetik. Das Prinzip der monarchischen Unter-
ordnung). Wenn wir der Natur gegenüber einen solchen »fesselnden« Punkt ent-
decken, streift unser Blick meist noch einige Zeit ziel- und regellos umher, ehe er
sich schärft und stockt. Dasselbe tut unser Auge auch dem Bilde gegenüber. Wir
haben, mit anderen Worten, eine orientierende Funktion zu unterscheiden und
eine die erstere ablösende — betrachtende. Die letztere ist und bleibt das für
die ästhetische Anschauung Maßgebende. An dem vom Maler etwa in die Bild-
mitte gelegten Fixationspunkt haftet das Auge dauernd, von hier aus erwächst ihm
 
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