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RICHARD M. MEYER.
Aber halten wir dies fest: die innere Vorbereitung. Sie wird da-
durch ermöglicht, daß die aufgegebenen Themata (S. 171, 206) einen
nicht allzu weiten Kreis umspannen; und dies wieder beruht auf einer
ziemlich weitgehenden Gleichmäßigkeit der literarischen Bildung, der
dichterischen Interessen, der Lektüre.
Wir finden daher die Improvisationskunst reicher nur da entwickelt,
wo eine feste Kunstübung sich mit einem verhältnismäßig engen
poetischen Horizont vereinigt. So denn vor allem auch in der Volks-
poesie. »Der kirgisische Sänger, der uns als Typus dienen kann,
dichtet nicht neu, wenn er singt, sondern er schildert einen neuen oder
bekannten Inhalt, indem er die Form aus einer großen Anzahl kleiner
Vortragsteilchen mosaikartig zusammensetzt. Solche Vortragsteilchen,
die sich wegen des gleichen Metrums überall verwenden lassen, sind:
Schilderungen gewisser Vorfälle und Situationen, wie Geburt und Auf-
wachsen eines Helden, Preis der Waffen, Vorbereitung zum Kampfe,
Schilderung von Persönlichkeiten, Unterredungen von Helden, Tod
eines Helden, Malen eines Landschaftsbildes, das Hereinbrechen der
Nacht u. s. w. Die Kunst des Sängers besteht darin, die fertigen Bild-
teilchen so aneinander zu reihen, wie der Lauf der Begebenheit es fordert,
und durch Neues zu verbinden. Je mehr solcher Teilchen der Sänger
besitzt, desto abwechslungsreicher und mannigfaltiger kann er den Ge-
sang gestalten. Der Sänger kennt keine Lieder, sondern nur Stoffe.«
(John Meier, Werden und Leben des Volksepos, S. 13; vgl. Anm. S. 40.)
Improvisation ist also hier momentane Kombination im Gedächtnis aufbe-
wahrter poetischer Einzelstücke; so ist sie nur möglich, wo solche Elemente
in großer Zahl vorhanden sind — aber auch überall, wo das der Fall ist.
Es ist daher auch ein prinzipieller Unterschied zwischen den be-
rühmten Sängerkämpfen etwa im Kaukasus (Bodenstedt, 1001 Tag im
Orient, 3, 15) und einem solchen zwischen zwei italienischen Stegreif-
virtuosen (Vitagliano S. 193). Überall werden, wie bei den Schnada-
hüpferln der bayrischen Bauern auch, mit vorgearbeitetem Material die
Hauptkosten bestritten. Und so urteilt denn über O. L. B. Wolff, den
»ersten deutschen Improvisator«, den Nachahmer des Gianni (Vita-
gliano, S. 116) und Sgricci (ebenda S. 144; bei Edward Schroeder
verdruckt »Spricci«) Edward Schroeder (Allg. deutsche Biogr. 44, 10):
»Sicher ist, daß er in seinem ausgezeichneten Gedächtnis eine Unsumme
von Tatsachen, Situationen, wörtlichen Reminiszenzen aus Geschichte und
Literatur aufspeicherte, wahrscheinlich, daß die lyrischen Digressionen,
die Gebete, Danklieder, Hymnen, die er, wo er nur konnte, einschob,
als bequemer Apparat bereit gelegt werden.« Es scheint also, daß jener
Ausspruch recht hat, nach dem am besten immer diejenigen Improvi-
sationen gelingen, die am sorgfältigsten vorbereitet sind!
RICHARD M. MEYER.
Aber halten wir dies fest: die innere Vorbereitung. Sie wird da-
durch ermöglicht, daß die aufgegebenen Themata (S. 171, 206) einen
nicht allzu weiten Kreis umspannen; und dies wieder beruht auf einer
ziemlich weitgehenden Gleichmäßigkeit der literarischen Bildung, der
dichterischen Interessen, der Lektüre.
Wir finden daher die Improvisationskunst reicher nur da entwickelt,
wo eine feste Kunstübung sich mit einem verhältnismäßig engen
poetischen Horizont vereinigt. So denn vor allem auch in der Volks-
poesie. »Der kirgisische Sänger, der uns als Typus dienen kann,
dichtet nicht neu, wenn er singt, sondern er schildert einen neuen oder
bekannten Inhalt, indem er die Form aus einer großen Anzahl kleiner
Vortragsteilchen mosaikartig zusammensetzt. Solche Vortragsteilchen,
die sich wegen des gleichen Metrums überall verwenden lassen, sind:
Schilderungen gewisser Vorfälle und Situationen, wie Geburt und Auf-
wachsen eines Helden, Preis der Waffen, Vorbereitung zum Kampfe,
Schilderung von Persönlichkeiten, Unterredungen von Helden, Tod
eines Helden, Malen eines Landschaftsbildes, das Hereinbrechen der
Nacht u. s. w. Die Kunst des Sängers besteht darin, die fertigen Bild-
teilchen so aneinander zu reihen, wie der Lauf der Begebenheit es fordert,
und durch Neues zu verbinden. Je mehr solcher Teilchen der Sänger
besitzt, desto abwechslungsreicher und mannigfaltiger kann er den Ge-
sang gestalten. Der Sänger kennt keine Lieder, sondern nur Stoffe.«
(John Meier, Werden und Leben des Volksepos, S. 13; vgl. Anm. S. 40.)
Improvisation ist also hier momentane Kombination im Gedächtnis aufbe-
wahrter poetischer Einzelstücke; so ist sie nur möglich, wo solche Elemente
in großer Zahl vorhanden sind — aber auch überall, wo das der Fall ist.
Es ist daher auch ein prinzipieller Unterschied zwischen den be-
rühmten Sängerkämpfen etwa im Kaukasus (Bodenstedt, 1001 Tag im
Orient, 3, 15) und einem solchen zwischen zwei italienischen Stegreif-
virtuosen (Vitagliano S. 193). Überall werden, wie bei den Schnada-
hüpferln der bayrischen Bauern auch, mit vorgearbeitetem Material die
Hauptkosten bestritten. Und so urteilt denn über O. L. B. Wolff, den
»ersten deutschen Improvisator«, den Nachahmer des Gianni (Vita-
gliano, S. 116) und Sgricci (ebenda S. 144; bei Edward Schroeder
verdruckt »Spricci«) Edward Schroeder (Allg. deutsche Biogr. 44, 10):
»Sicher ist, daß er in seinem ausgezeichneten Gedächtnis eine Unsumme
von Tatsachen, Situationen, wörtlichen Reminiszenzen aus Geschichte und
Literatur aufspeicherte, wahrscheinlich, daß die lyrischen Digressionen,
die Gebete, Danklieder, Hymnen, die er, wo er nur konnte, einschob,
als bequemer Apparat bereit gelegt werden.« Es scheint also, daß jener
Ausspruch recht hat, nach dem am besten immer diejenigen Improvi-
sationen gelingen, die am sorgfältigsten vorbereitet sind!