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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0479
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BESPRECHUNGEN.

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bloßes konfliktloses »Spiel« erinnert. Er bestreitet zwar nicht, daß sich auch bei
Mozart erhabene Wirkungen finden, läßt sie aber nur gelten als ein »gelegentlich
Erhabenes formaler Elemente«, welches sich merklich und dem Wesen nach unter-
scheide von dem wahren Erhabenen bei Beethoven und Wagner.
Ein ganz besonderes Gepräge erhält Seidls Auffassung dadurch, daß er, fußend
auf seiner Voraussetzung von der Formwidrigkeit der Idee im Erhabenen, das
Schöne im optimistischen, das Erhabene im pessimistischen Sinne deutet:
im Schönen, sagt er, ruhen Idee und Bild, Geist und Materie anscheinend friedlich
versöhnt und harmonisch in Eins gebildet beieinander. Motto: es läßt sich alles
recht wohl vereinigen; man erhält den Eindruck, die Welt ist doch gar hübsch und
freundlich, das Leben auf Ausgleich und harmonisches Glück wohl angelegt, die
Schöpfung ist gut! Im Erhabenen kommt aber der urewige Zwiespalt zwi-
schen Geist und Materie, der Kampf der Idee mit dem Bilde, der bisher
geschlummert zu haben schien, zu mehr oder minder heftigem Durchbruch und
beim anschauenden Subjekte zugleich zu stärkendem Bewußtsein. Es fühlt dann
seine Einbildungskraft durch den Kampf des Geistes mit der Sinnlichkeit
erweitert, höher gehoben. Motto hier: die Welt ist schlecht, weil nur endliche
Erscheinung eines Unendlichen, weil unvollkommene Realisierung der Idee.
Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß diese Entgegensetzung des
Schönen und Erhabenen im banal-optimistischen und pessimistischen Sinne ebenso-
wenig haltbar ist wie die Behauptung von der Formlosigkeit des Erhabenen. Im
Schönen ruhen Idee und Bild, Geist und Materie nicht nur »anscheinend«, sondern
tatsächlich »friedlich versöhnt und harmonisch in Eins gebildet beieinander«. Darum
ist uns im Schönen aber doch nicht eine banale Täuschung über die wahre Be-
schaffenheit der Welt gegeben, sondern im Gegenteil, ganz wie im Erhabenen, ein
Gefühl ihres eigentlichen, letzten Wesens, nämlich eine Ahnung ihrer jenseits der
irdischen Schranken begründeten tief inneren Harmonie. Diese Ahnung ist es
ja, welche dem wahren Schönen wie dem Erhabenen den idealen Wert verleiht.
Das Schöne und das Erhabene stimmen darin überein, daß sie uns über die Leiden
und den Zwiespalt des Lebens wenigstens für Momente hinausheben, daß sie aber,
um dies zu können oder um das zu werden, was sie sind, die Welt in ihrer wahren,
also tragischen Beschaffenheit zur Voraussetzung haben. Auch die süße, lösende
Wehmut einer Melodie von Mozart kommt nur zu stände durch die in ihr aufge-
gehobenen charakteristischen Dissonanzen, ja, die Melodie wird um so gehaltvoller
sein, je ausgeprägter die Dissonanzen sind, die der Künstler organisch zu ver-
weben im stände war. Dies läßt sich auf alle Künste ohne Ausnahme übertragen:
in allen bleibt die Tiefe des Ausdruckes bedingt durch das Maß der vom Künstler
bewältigten Dissonanz. Dadurch nur wird das Kunstwerk — sei es nun schön
oder erhaben — zum Spiegelbild der Welt in ihrer wahren Beschaffenheit oder
zum Mikrokosmos, und erst diese mikrokosmische Beschaffenheit verleiht ihm die
Fähigkeit, uns vermöge seines Gehaltes über den Alltag hinauszuheben. Darin
liegt nicht pessimistische Verzweiflung, sondern Trost, aber kein banaler Trost, der
vor der tieferen Einsicht in nichts zerstiebt, sondern der Trost, den erst die Kenntnis
der Welt in ihrer eigentlichen Bedeutung gewähren kann.
Wird schon das Wesen des Schönen dadurch entstellt, daß man es im banal-
optimistischen Sinne deutet, dann noch viel mehr das des Erhabenen durch Unter-
schiebung pessimistischer Tendenzen. Es wird auf diese Weise geradezu in sein
Gegenteil verkehrt. Nicht dadurch wirkt ein Objekt erhaben, daß es uns den Zwie-
spalt zwischen Geist und Materie, den Kampf der Idee mit dem Bilde versinn-
licht, sondern im Gegenteil dadurch, daß eine noch mächtigere Idee als im Schönen
 
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