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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 5.1910

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Schmarsow, August: Anfangsgründe jeder Ornamentik, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3528#0329

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ANFANGSGRÜNDE JEDER ORNAMENTIK. 325

bildender Kunst verleitet hatte, zurück zur Beobachtung primitiver
Tätigkeit, die wir schon bei der Entstehung des einfachsten Hals-
bandes aus einem Lederriemen oder einem Baststreifen eingeschlagen
hatten. Das wäre ja wohl die Quelle sämtlicher sogenannter >Herstel-
•ungsmotive« der Ornamentik.

Die Lagerstätten paläolithischer Jäger, die unter einem überhängen-
den Felsen etwa auf uns gekommen sind, enthalten aufgehäufte Massen
zerschlagener Knochen des erlegten Wildes. Hier finden sich nahe
an den Gelenkenden quer verlaufende Einschnitte und Kerben, die
beim Zerlegen entstanden sind. Aber schon hier begegnen auch wohl
Beispiele zufälliger oder absichtlicher Wiederholung solcher Querstriche.

em Jäger jener Zeit war das Einkerben und Entlangschaben am
weichen Knochen durchaus geläufig, zumal wenn er seine Hautloser
und Genickfänger, seine Pfeilspitzen und Pfriemen aus Knochen her-
zustellen pflegte. So sehen wir nicht selten auf den ältesten Knochen-
werkzeugen ganz zwecklos und unmotiviert angebrachte Kerben, die

icnts sein können als spielende Wiederholung der zweckdienlichen
Bewegung mit einem scharfen Instrument1).

Zunächst mag die Parallele ganz unvermerkt entstanden sein. Ein
ander Mal ward sie vielleicht reflexartig als Nachklang der ersten aus-
geführt. Innervationsresiduen im Organ selber können solche Replik
veranlassen. Übungsbewegungen bei unserer heutigen Gymnastik
zeigen uns solche Fälle ganz geläufig, mögen sie auch keine sichtbare
rurche hinterlassen, wo der Arm oder das Bein in der Luft nach-
Pendelt, wie etwa das Spiel mit dem Spazierstock sie auf sandigem
Koden hervorbringt. Die wichtigste Tatsache beruht jedoch darin,

aß die Wiederholung aufgefaßt, daß ihr Ergebnis anerkannt und ge-
schont oder gar mit Absicht weitergeführt wird. Mag ein fehlge-
§>angener Strich beim Glattschaben oder eine Unvorsichtigkeit bei der

°l"erarbeit die Gelegenheitsursache sein. Die Ritzung geht vielleicht
Zu tief, so daß sie nicht ausgewetzt werden kann; da hilft man sich,
lndem man die ganze ursprünglich glatt gewollte Fläche mit Ritzen
schraffiert. Und eben die Regelmäßigkeit der Abstände, die wohl be-
sessene Füllung mit Strichen von einem Ende bis zum andern oder
ln klar erkennbaren Grenzen verhütet den Anschein des Zufälligen,

en Erdacht des Mißlingens- und sichert den Eindruck des Gewollten,
ü^s absichtsgemäß Erreichten. So entsteht vermeintlich von selbst,
aber in Wirklichkeit unter mannigfaltigem Mitspiel des Menschenwillens
P Pr'märe Musterung, vielleicht die Kerbreihe, die man als »älteste
J^nijieriOrnamentik« angesprochen hat. .

Bd ii Uber diesen Tatbestand vgl. M. Verworn, Anfänge der Kunst 1909, S. 33 mit
• ". 4 dieser Zeitschrift, S. 472 ff.
 
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