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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0325
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BESPRECHUNGEN. 319

und Erkenntnisse zur Verfügung, so daß wir also, sobald wir Entwicklungstatsachen
aus der Geschichte der Malerei gegenüberstehen, die über eine polychrome Bild-
haltung hinaus zu einer farbigen oder malerischen Bildhaltung gelangt sind, den
Boden wissenschaftlicher Fundierung unter den Füßen verlieren. Wie gering sind
die Modifikationsmöglichkeiten der Linie gegenüber den unendlich vielen Modi-
fikationsmöglichkeiten farbiger Haltung, die eben, sobald sie über die Polychromie
hinausgeht, ein Zusammengesetztes wird. Die Dinge liegen bei der Linie viel ein-
facher als bei der Farbe. Denn schon darin, daß die Welt der Linie mit der Unter-
scheidung von absoluter Linie und konturgebender, formbegrenzender Linie klar
geschieden ist, während mit der analogen Unterscheidung von absoluter und Lokal-
farbe wiedergebender Farbe für die Welt der Farbe noch sehr wenig gesagt ist,
liegt eine große Verschiedenheit. Denn bei der Farbe beginnt hier erst eine Ent-
wicklung, an der auch andere Faktoren teilnehmen, vor allem das Licht in seiner
doppelten Erscheinungsform als künstliches und natürliches Licht. Und es wäre
unmöglich, diese weiteren Modifikationen farbiger Haltung auf solche typischen
Bildungen zu reduzieren, wie dies immerhin bei der Linie der Fall ist. Wir können
uns über die gotische Linie, die Barocklinie, die japanische Linie, die arabische
Linie usf. in kurzen linearen Schemata orientieren, wie schwer aber würde eine
solche Verständigung, wenn es sich um die venezianische oder vlämische Farben-
gebung handelte. Nur vor Originalen ließe sich darüber sprechen und zwar nur
mit Zuhilfenahme des Zeigefingers, denn hier fehlte das Wichtigste, nämlich ein
festes, allgemein anerkanntes System der Farbenbenennung. Dieser Mangel ist —
der angedeuteten Entwicklungslinie der kunsthistorischen Interessenverschiebung
entsprechend — neuerdings sehr fühlbar geworden. Er ist zu einem aktuellen
Problem geworden, zu dem die beiden letzten kunsthistorischen Kongresse aus-
drücklich Stellung genommen haben. Wie weit die von hier ausgehenden Be-
mühungen um eine allgemeine Konvention der Farbenbenennung Erfolg haben
werden, das ist sehr problematisch. Jedenfalls wäre erst dann, wenn dieses Ideal
eines sicheren, die feinsten Nuancen fixierendes Verständigungsmittels erreicht wäre,
eine wissenschaftliche Registrierung der Färb- und Ton werte eines Bildes
möglich, wie es in der offiziellen Tendenz eines Katalogs liegt. Bis dahin aber
wird — das ist mit Sicherheit anzunehmen — die Farbenphotographie so weit vor-
geschritten sein, daß sie, wenigstens für die Katalogzwecke, um die es sich hier
handelt, die wissenschaftliche Farbenanalyse überflüssig macht.

Wir können also die beiden Kataloge, die uns vorliegen, nicht als unmittelbare
wissenschaftliche Fortschritte anerkennen. Denn wie gesagt, für die wissenschaft-
liche Fixierung der Ton- und Farbwerte fehlt vorläufig der geeignete Apparat, und
nach dieser Seite hin wäre also das Experiment als verfehlt zu betrachten. Aber
ich glaube, man wird den beiden Publikationen erst dann gerecht, wenn man sich
fragt, ob sie durch eine derartige vollkommene Registrierung der Ton- und Farb-
werte, wie sie direkt durch die Farbenphotographie und indirekt durch einen idealen
wissenschaftlichen Farbenregistrierungsapparat erreicht werden könnte, überflüssig
gemacht würden. Die Frage ist entschieden zu verneinen. Diese Publikationen
tragen keinen faute-de-micu.x-Chnra.Uer, wenn man sie richtig auffaßt, nämlich nicht
als eine mechanische Registrierung der farbigen Bildhaltung, sondern als eine
lebendige Interpretierung derselben. Ihr unmittelbarer wissenschaftlicher Wert ist
also gering, ihr künstlerischer aber recht ansehnlich. Und schließlich kommt jede
Bereicherung der künstlerischen Betrachtung der Kunst ihrer wissenschaftlichen Be-
trachtung, wenn auch auf Umwegen, doch zugute.

Wenn wir nun unter diesen Gesichtspunkten die beiden Werke miteinander
 
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